Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Fähigkeit besessen, sich in einen Bären oder ein Reh zu verwandeln. Martin konnte sich noch gut erinnern, wie sein Vater ihm einmal von dieser Frau erzählt hatte; er hatte gesagt, sie habe in einer Hütte oben jenseits der Teufelshand gelebt, und wenn im Ort jemand krank wurde, seien die Leute zu ihr gekommen. »Wenn einem der Arzt nicht helfen konnte, wandte man sich an sie.«
Ihr war etwas zugestoßen – ein Unfall? War sie ertrunken? Irgendein Unglück hatte sie ereilt, etwa zu der Zeit, als Saras Bruder gestorben war. Martin erinnerte sich nicht mehr an die Einzelheiten, und als er Sara kurz nach ihrer Hochzeit einmal dazu befragte, schüttelte sie bloß den Kopf.
»Die Geschichten, die du gehört hast, sind nichts weiter als Geschichten. Die Leute in der Stadt lieben es, ihr Garn zu spinnen, das weißt du so gut wie ich. Da waren nur Vater, Constance, Jacob und ich. Es gab keine Frau im Wald.«
In der Grundschule hatte Martin einmal mit einigen Jungen auf dem Schulhof Murmeln gespielt. Sein älterer Bruder Lucius war auch dabei, und er war wütend, weil Martin soeben seine Lieblingsmurmel aus dem Kreis geschlagen und von ihm gewonnen hatte. Es war eine wunderschöne orangefarbene Murmel aus Achat, der Lucius den Namen »Jupiter« gegeben hatte. Martin hielt seinen Gewinn in die Höhe und dachte über die Kreisbahnen der Planeten nach, als Sara Harrison zu ihnen herübergeschlendert kam. Ihre Kupferaugen blitzten und fingen das Licht ein, gerade so wie seine neue Murmel. In diesem Moment erschien sie ihm so unfassbar schön, dass er das Einzige tat, was ihm einfiel – er schenkte ihr die Murmel.
»Nein!«, schrie Lucius. Doch es war zu spät. Sara schloss die Finger um die Murmel und lächelte.
»Martin Shea, du bist der, den ich einmal heiraten werde«, verkündete sie.
Lucius schnaubte vor Lachen. »Du bist verrückt, Sara Harrison.«
Doch Sara hatte die Worte mit einer solchen Bestimmtheit, einer so festen Überzeugung ausgesprochen, dass Martin niemals daran zweifelte, dass sie stimmten, auch wenn er damals, in Gegenwart seiner Freunde und seines Bruders, lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht. Denn es kam ihm tatsächlich wie ein Scherz vor, dass ein so hübsches Mädchen wie sie sich für jemanden wie Martin entscheiden könnte.
Er war ein Sonderling – die Arme zu lang für die Ärmel seiner Hemden, die Nase stets in einem Abenteuerbuch: Der schweizerische Robinson, Die Schatzinsel, Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer . Er sehnte sich nach Abenteuern und glaubte, in seiner Brust schlüge das Herz eines Helden. Leider gab es in West Hall keine Piraten, gegen die er kämpfen, keine Schiffsunglücke, die er überleben konnte. Nur die endlose Eintönigkeit der Arbeit auf der Farm seiner Eltern: Kühe melken, Heu machen. Eines Tages, schwor er sich, würde er all das hinter sich lassen und zu wahren Abenteuern aufbrechen – er war für Höheres bestimmt als zum Dasein eines Bauern. Bis es so weit war, würde er sich gedulden. Er war ein schlechter Schüler und träumte, wenn er hätte lernen sollen. Sein Bruder Lucius hingegen war Klassenbester. Lucius war stärker, schneller, mutiger als Martin, er sah sogar besser aus. Lucius war derjenige von den beiden Brüdern, den die Mädchen heiraten wollten. Was also sah Sara Harrison in ihm, Martin?
Damals wusste er es noch nicht, doch dies war eine von Saras großen Gaben: die Fähigkeit, in winzigen Dingen die Zukunft zu sehen, als besäße sie ein besonderes Teleskop.
»Du wirst niemals aus West Hall weggehen, Martin«, sagte sie ihm beim Picknick am 4 . Juli. Martin war zwölf. Fast alle Einwohner der Stadt hatten sich auf dem Grün um den neu errichteten Musikpavillon versammelt. Einige tanzten, andere hatten es sich auf Decken bequem gemacht. Lucius stand oben auf der Bühne und spielte Trompete. Er und einige Männer aus dem Ort bildeten zusammen das Stadtorchester von West Hall. Im Herbst würde Lucius nach Burlington gehen, um Medizin zu studieren – dank seiner guten Noten hatte er ein Vollstipendium an der Universität von Vermont erhalten.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Martin und wandte sich zu Sara um, die sich gerade neben ihm niederließ.
»Bist du jemals auf den Gedanken gekommen, dass all die Abenteuer, die du erleben möchtest, vielleicht genau hier auf dich warten?«
Er lachte, und sie schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, bevor sie in die Tasche ihrer Jacke griff und etwas herausholte. Die Jupitermurmel.
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