Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
steckte die Murmel wieder ein, beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich wünsche dir einen schönen Unabhängigkeitstag, Martin Shea.«
Dies war der Moment, in dem er begriff, dass Sara recht gehabt hatte – sie war das Mädchen, das er einmal heiraten würde. Sie war das Abenteuer, das zu erleben er bestimmt war.
»Martin«, hatte sie ihm in ihrer Hochzeitsnacht zugeflüstert. Sie hatte die Finger in seinem Haar vergraben, und ihre Lippen kitzelten sein rechtes Ohr. »Eines Tages werden wir ein kleines Mädchen haben.«
Und genauso war es gekommen.
Sieben Jahre zuvor, nachdem drei Kinder noch in Saras Bauch gestorben waren und sie ihren Sohn Charlie mit zwei Monaten verloren hatten, brachte Sara Gertie zur Welt. Das Mädchen war winzig – so klein, dass Lucius meinte, es würde die erste Woche nicht überleben.
Er hatte sein Examen gemacht und war aus Burlington nach West Hall zurückgekehrt, um in der Praxis des alten Dr. Stewart zu arbeiten, der sich bald zur Ruhe setzen würde. Danach wäre Lucius der einzige Arzt im Ort.
Lucius schloss seine lederne Arzttasche und legte Martin die Hand auf den Arm.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Doch Lucius irrte sich: Gertie saugte sich an Saras Brust fest und trank und trank und wurde mit jedem Tag kräftiger. Sie war ihr Wunderkind. Sara strahlte vor Glück, wenn die Kleine an ihrer Brust schlief, und sah Martin mit einem Lächeln an, als sei auf der Welt alles in bester Ordnung. Martin empfand dasselbe wie sie und wusste, dass kein Abenteuer, das er jemals hätte erleben können, ein glücklicheres Ende hätte nehmen können als dieses; staunend und mit Stolz betrachtete er die beiden. Sie waren das Allerbeste, was sein Leben zu bieten hatte.
Obgleich sie nicht länger an der Brust trank, hing Gertie immer noch sehr an Sara. Sie waren unzertrennlich, hielten sich ständig in den Armen, schmiegten sich fest aneinander. Sie flochten sich gegenseitig die Haare und schrieben einander mit Fingern geheime Botschaften in die Handflächen. Manchmal dachte Martin, dass sie gar keine Worte benötigten, um sich zu verständigen, weil sie die Gedanken des anderen lesen konnten. Sie schienen allein mit Blicken lange Unterhaltungen zu führen, und lachten und nickten einander über den Abendbrottisch hinweg zu. Manchmal verspürte Martin dabei einen Anflug von Neid. Hin und wieder unternahm er auch den Versuch, sich an ihren Heimlichkeiten und kleinen Scherzen zu beteiligen, doch er lachte unweigerlich im falschen Moment, und dann schaute Gertie ihn an, als wolle sie sagen: Armer Papa . Er sah ein, dass zwischen den beiden eine Nähe, eine ganz besondere Verbindung bestand, an der er niemals teilhaben würde. Irgendwann fand er sich damit ab. Er hielt sich auch so für den glücklichsten Mann der Welt, weil er diese zwei Menschen zur Frau und Tochter hatte – es war, als dürfe er in der Gesellschaft von Feen oder Meerjungfrauen leben; atemberaubend schöne Wesen, die zu durchschauen er als Mensch nicht bestimmt war.
Dennoch fürchtete er, dass der Verlust ihrer bisherigen Kinder Sara dazu veranlasste, sich auf eine Art und Weise an Gertie zu klammern, die mitunter fast etwas Verzweifeltes hatte. Es gab Tage, an denen sie das Mädchen nicht zur Schule gehen ließ. Sie behauptete dann, sie mache sich Sorgen, weil Gerties Nase laufe oder ihre Augen ein wenig glasig seien. Sie behielt Gertie viel zu oft daheim, als könne sie es kaum ertragen, von ihr getrennt zu sein.
In seinen Momenten größter Schwermut glaubte Martin, dass seine Frau, obwohl sie dies niemals eingestehen würde, ihm die Schuld am Tod der anderen Kinder gab – der drei namenlosen Kleinen, die noch im Mutterleib gestorben waren, und des kleinen Charles, ihres zwei Monate alten Sohnes. Jede Fehlgeburt hatte Sara in tiefste Verzweiflung gestürzt – sie hatte wochenlang im Bett gelegen, geweint und kaum einen Bissen zu sich genommen. Und dann war Charles auf die Welt gekommen, gesund und kräftig, mit einem Schopf dunkler lockiger Haare und einem Gesicht so weise wie das eines hundertjährigen Greises. Eines Morgens fanden sie ihn tot und kalt in seiner Wiege. Sara nahm ihn in den Arm und hielt ihn den ganzen Tag bis in den nächsten Morgen. Als Martin versuchte, ihr den Säugling abzunehmen, beharrte sie darauf, dass er nicht tot sei.
»Er atmet noch«, behauptete sie. »Ich spüre sein kleines Herz schlagen.«
Martin wich angstvoll vor ihr zurück. »Bitte, Sara«, flehte er.
»Lass
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