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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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her? Wann war’s das letzte Mal, daß du jung gewesen bist?
    Ich denke nach, und die erfrorene Erinnerung kommt langsam in Fluß, bewegt sich, schlägt unsichere Augen aufund strahlt unversehens ihre klaren Bilder aus, die unverloren unter der Todesdecke schliefen.
    Anfangs will es mir scheinen, die Bilder seien ungeheuer alt, zum mindesten zehn Jahre alt. Aber das taub gewordene Zeitgefühl wird zusehends wacher, legt den vergessenen Maßstab auseinander, nickt und mißt. Ich erfahre, daß alles viel näher beieinander liegt, und nun tut auch das entschlafene Identitätsbewußtsein die hochmütigen Augen auf und nickt bestätigend und frech zu den unglaublichsten Dingen. Es geht von Bild zu Bild und sagt: »Ja, das war ich«, und jedes Bild rückt damit sofort aus seiner kühlschönen Beschaulichkeit heraus und wird ein Stück Leben, ein Stück meines Lebens. Das Identitätsbewußtsein ist eine zauberhafte Sache, fröhlich zu sehen, und doch unheimlich. Man hat es, und man kann doch ohne es leben und tut es oft genug, wenn nicht meistens. Es ist herrlich, denn es vernichtet die Zeit; und ist schlimm, denn es leugnet den Fortschritt.
    Die erwachten Funktionen arbeiten, und sie stellen fest, daß ich einmal an einem Abend im vollen Besitz meiner Jugend war, und daß es erst vor einem Jahr gewesen ist. Es war ein unbedeutendes Erlebnis, viel zu klein, als daß es sein Schatten sein könnte, in dem ich nun so lange lichtlos lebe. Aber es war ein Erlebnis, und da ich seit Wochen, vielleicht Monaten vollkommen ohne Erlebnisse war, dünkt es mir eine wunderbare Sache, schaut mich wie einParadieslein an und tut viel wichtiger, als nötig wäre. Allein mir ist das lieb, ich bin dafür unendlich dankbar. Ich habe eine gute Stunde. Die Bücherreihen, die Stube, der ofen, der Regen, das Schlafzimmer, die Einsamkeit, alles löst sich auf, zerrinnt, schmilzt hin. Ich rege, für eine Stunde, befreite Glieder.
    (Aus: »Taedium Vitae«, 1908)
/ GRAUER WINTERTAG /
    Es ist ein grauer Wintertag,
Still und fast ohne Licht,
Ein mürrischer Alter, der nicht mag,
Daß man noch mit ihm spricht.
    Er hört den Fluß, den jungen, ziehn
Voll Drang und Leidenschaft;
Vorlaut und unnütz dünkt sie ihn,
Die ungeduldige Kraft.
    Er kneift die Augen spöttisch ein
Und spart noch mehr am Licht,
Ganz sachte fängt er an zu schnei’n,
Zieht Schleier vors Gesicht.
    Ihn stört in seinem Greisentraum
Der Möwen grell Geschrei,
Im kahlen Ebereschenbaum
Der Amseln Zänkerei.
    All das Getue lächert ihn
Mit seiner Wichtigkeit;
Er schneielet so vor sich hin
Bis in die Dunkelheit.
/ / GESPRÄCH MIT DEM OFEN
    Er stellte sich mir vor, dick, breit, das große Maul voll Feuer. Er hieß Franklin. »Bist du Benjamin Franklin?« fragte ich.
    »Nein, nur Franklin. Francolino. Ich bin ein italienischer ofen, eine vorzügliche Erfindung. Ich wärme zwar nicht besonders, aber als Erfindung, als Erzeugnis einer hochentwickelten Industrie …«
    »Ja, das ist mir bekannt. Alle Öfen mit schönen Namen heizen mäßig, sind aber vorzügliche Erfindungen, manche sind sogar Ruhmestaten der Industrie, wie ich aus Prospekten weiß. Ich liebe sie sehr, sie verdienen Bewunderung. Aber sage, Franklin, wie kommt das, daß ein italienischer ofen einen amerikanischen Namen hat? Ist das nicht sonderbar?«
    »Nein, das ist eines der geheimen Gesetze, weißt du. Die feigen Völker haben Volkslieder, in denen der Mut verherrlicht wird. Die lieblosen Völker haben Theaterstücke, in denen die Liebe verherrlicht wird. So ist es auch mit uns, mit den Öfen. Ein italienischer ofen heißt meistens amerikanisch, so wie ein deutscher ofen meistens griechisch heißt. Sie sind deutsch, und sie wären um nichts besser als ich, aber sie heißen Heureka oder Phönix oder Hektors Abschied. Er weckt große Erinnerungen. So heiße auch ich Franklin. Ich bin ein ofen, aber ich könnte ebensogut ein Staatsmann sein. Ich habe einen großen Mund, wärme wenig, speie Rauch durch ein Rohr, trage einen guten Namen und wecke große Erinnerungen. So ist das mit mir.«
    »Gewiß«, sagte ich, »ich habe die größte Achtung vor Ihnen. Da Sie ein italienischer ofen sind, kann man gewiß auch Kastanien in Ihnen braten?«
    »Man kann es, gewiß, es steht jedem frei, es zu versuchen. Es ist ein Zeitvertreib, viele lieben das. Manche machen auch Verse oder spielen Schach. Gewiß kann man Kastanien in mir braten. Sie verbrennen zwar und sind dann nicht mehr eßbar, aber der Zeitvertreib ist da. Die Menschen lieben

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