Du wirst sein nächstes Opfer sein: Thriller (Knaur TB) (German Edition)
1
D u musst ihn töten.
Rosalee Klein saß in ihrem Mercedes, starrte durch die Windschutzscheibe auf eine weißgestrichene Ziegelmauer und umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Finger taub wurden. In ihrem Kopf hallte die eintönige, ruhige Stimme, und sie vernahm die Worte klar und deutlich.
Es war nicht ihre eigene Stimme.
Es ist völlig logisch, und du weißt es. Töte ihn, dann hast du das alles hinter dir.
Mittlerweile hatte Rosalee sich angewöhnt, in ihr die Stimme der Gerechtigkeit zu sehen, da sie zunächst die Tatsachen aufzählte und daraufhin entschied, wie gehandelt werden musste. Sie erging sich nicht in Mehrdeutigkeiten und Behauptungen, sondern war fest und unerbittlich wie ein niedersausendes Fallbeil, vollkommen gnadenlos.
»Ich will nicht«, sagte Rosalee. Zu ihrem eigenen Ekel klang sie dabei wie ein bockiges Kind, das greint, weil es ins Bett gehen soll.
Doch, du willst es. Du willst ihn sogar sehr gern töten. Denn er hat es verdient, und das weißt du. Dir fehlt es einfach nur an der Entschlossenheit und dem nötigen Mumm. Aber mir nicht, und ich habe hier das Sagen. Ich werde dir die Kraft verleihen, es zu tun. Hat er es denn etwa nicht verdient, für das zu büßen, was er getan hat?
»Doch«, flüsterte sie.
Du machst es ja nicht wirklich selbst, sondern gehorchst lediglich Mächten, die du nicht kontrollieren kannst. Ist die Kugel verantwortlich für den Tod, den sie bringt? Oder sollte nicht vielmehr derjenige die Schuld auf sich nehmen, der den Abzug drückt?
»Aber … meine Kinder …«
Ja, deine Kinder. Willst du, dass sie ohne Mutter aufwachsen?
Allein von der Vorstellung wurde ihr speiübel. Die süße kleine Madeline und Joel, der Rabauke. Beide waren noch nicht einmal alt genug für die Schule. Das konnte sie nicht zulassen. »Ich könnte im Gefängnis landen …«
Das wird nicht passieren. Nicht wenn du tust, was ich dir sage. Du wirst eine Heldin.
Verzweifelt schlug sie auf das Lenkrad ein. »Ich tu’s nicht! Allermindestens werde ich meine Zulassung verlieren …«
Ihr Ausbruch erstarb in einem würgenden, unartikulierten Röcheln. Sie wurde von Schmerzen geschüttelt, die ihren ganzen Körper erfassten. Qualvoll zogen sich ihre Muskeln zusammen, und sie zuckte unkontrolliert. Das war nicht der erste Anfall, den sie erlitt, aber mit Abstand der schlimmste. Wider Willen schrie sie auf, während sie von rasenden Schmerzen gepeinigt wurde, bis sie benommen und halb ohnmächtig über dem Lenkrad zusammensackte.
Dir kann Schlimmeres passieren, als deine Zulassung zu verlieren, Rosalee. Steig aus dem Auto und geh in das Gebäude. Auf dich wartet eine Aufgabe.
Sie tat, wie man ihr befahl.
Auf wackligen Beinen stöckelte sie auf den Eingang des Beverly Hills Imago Medical Center zu und hoffte, dass sie nicht allzu zerzaust aussah. Das große, runde Gebäude bestand ganz aus blankem Stahl und Glas und war nicht einmal ein Jahr alt. Die Klinik hatte sich auf Schönheitschirurgie und eine sehr betuchte Klientel spezialisiert, vor allem auf Schauspieler, Rockstars und andere Promis, die bereit waren, für die derzeit angesagtesten Operationen Geld auszugeben. Von der gläsernen Fassade prallten die Strahlen der kalifornischen Sonne wie Nadeln ab und stachen Rosalee ins Auge, als sie den Parkplatz überquerte. Deshalb kramte sie nach ihrer Sonnenbrille, bevor sie die Klinik betrat.
Nur einer der vier Herren am Empfangsschalter grüßte sie, denn die anderen waren mit Patienten oder Telefonaten beschäftigt, doch sie ging, ohne darauf zu reagieren, an ihm vorbei. Diese Unhöflichkeit würde nicht weiter auffallen, denn wenn in Beverly Hills Leute spät hereintorkelten, eine Sonnenbrille trugen und Gespräche vermieden, bedeutete das lediglich, dass sie zu lange auf der gestrigen Party geblieben und noch nicht bereit waren, sich dem Arbeitsalltag zu stellen.
Sie schaffte es in ihr Büro, setzte sich und versuchte, ihren Atem wieder zu beruhigen. Dann griff sie nach dem Tiffany-Handspiegel auf ihrem Schreibtisch, den ihr ein Rapper geschenkt hatte, nachdem sie ihn behandelt hatte, nahm die Sonnenbrille ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie war gerade einmal dreißig Jahre alt, blond, sonnengebräunt und besaß das gute Aussehen, das so viele Frauen in L.A. als Selbstverständlichkeit hinnahmen. Das lag an den Hollywood-Genen, wie sie vermutete, das Resultat von Millionen attraktiver Möchtegernstars, die Jahrzehnt um Jahrzehnt in die Stadt geströmt waren und
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