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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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Gepäck?“
    Sie verschluckte sich fast an den Worten, so kalt, so boshaft, so ganz ungewollt und doch – seltsam befriedigend. Sie sah, wie das Mädchen die Hände vors Gesicht schlug und hochrot anlief, hörte den feuchten Schluchzer dahinter. Ein Teil von ihr, ein kleiner, unangenehmer Teil, den sie selten spürte, wollte noch nachsetzen, eine weitere Beleidigung gegen die plumpen Handrücken schleudern. Entsetzt biss sie sich auf die Unterlippe, bis die Reue kam mit dem schwachen Blutgeschmack.
    „Schon gut“, sagte sie leise. „Es ist schon gut, Lieschen. Geh in den Salon und – und sieh nach, ob alle Weinkelche richtig auf der Tafel stehen.“
    Das Mädchen knickste wieder, wischte sich ungeschickt die Tränen ab. Seine klobigen Schuhe hallten auf dem Eichenboden, als es hinausging. Ein dumpfes, hohles Geräusch.
    Sie …
    Einen Moment lang sah sie die groteske Szene vor sich: ein aufrechter Sarg in einer Reisekutsche, steif und stumm, mitten zwischen den Passagieren, die aus dem Fenster sahen und taten, als hörten sie es nicht, das Poltern in manchen Kurven. Als ob Sie es je zugelassen hätte, eine solche Lächerlichkeit. Eine kleine graue Kapelle in einer Ecke des Schlosshofs, flache Stufen hinunter in bitterste Kälte – dort lag Sie längst und schlief, während die Schneeflocken langsam alle Spuren verdeckten. Blanka wusste das, aber das Wissen beruhigte sie nicht. Nein, sie würden Sie nicht mitbringen.
    Sie nicht.
    Wie lange hatte Blanka nicht mehr an das Schloss gedacht? Es mussten Jahre sein, und doch war die Erinnerung frisch und klar. Mauern wuchsen in die Höhe, schlanke graue Türme, zart wie Nadelspitzen, so ganz anders als der plumpe Kegelturm der Glashütte … Ihre Schultern verkrampften sich. Auf dem zweiten Tischchen, gleich neben der Haustür, stand die Schale für die Visitenkarten, und ein Stapel Briefe lag noch daneben. Sie nahm sie auf, um sich abzulenken, blätterte durch die festen weißen Umschläge. Viele der Absender kannte sie, Lieferanten aus dem Dorf, Putzmacher in der Stadt. Geheimrat Schollkopf, von dem ihr Ehemann den Quarzsand kaufte für die Glashütte, Konsul Melcher, von dem irgendwelche anderen wichtigen Ingredienzen bezogen wurden. Sie verstand nichts von Johanns Geschäften, und er hätte nur still gelacht, wenn er sie so gesehen hätte, mit den Briefen in der Hand. Aber sein Lachen wäre verflogen, sobald sie ihm den Rücken drehte; sie wusste, die Briefe enthielten Rechnungen. Unbezahlte Rechnungen und Mahnungen dazu. Und so viel verstand sie doch: Wenn Lieferanten zu lange auf ihr Geld warten mussten, lieferten sie irgendwann nicht mehr.
    Sie legte den Stapel vorsichtig wieder beiseite. Unter den Umschlägen rutschte ein offenes Blatt hervor; sie schob es hastig zurück, brauchte es nicht zu lesen, um zu wissen, was es war. Die Nachricht vom Telegraphenamt, harte, unordentliche Druckbuchstaben. Ganz unscheinbar sahen sie aus. Und hatten so vieles verändert …
    Blanka gab sich einen Ruck, legte behutsam eine Hand auf die Haustürklinke. Drückte, zu schwach erst, dann etwas fester. Das schwere Türblatt schwang langsam nach außen, nur eine Handbreit; dunstig kalte Luft zog in die Halle und mit ihr, viel lauter, das Rufen der Krähen. Blanka stand ganz still und sah durch den Spalt nach draußen. Hundert Meter vom Haus entfernt verschwand die Straße hinter den Bäumen. Nur hundert Meter … Wenn sie sich den Mantel überwarf und hinausging, bis zu der Biegung – sie fühlte deutlich, dass sie die Kutsche dann würde sehen können. Nur hundert Meter, und der Schnee war vor dem Haus glatt und hart geschliffen von Kutschenrädern und der Schaufel des Gärtners. Kein mühsames Gehen, nur ein paar schnelle Schritte. Ein paar Schritte, ein kurzer Blick, und dann wieder zurück ins Haus. Nur hundert Meter.
    Aber es war, wie es immer war. Ihre Füße zuckten auf der Stelle, als sie versuchte, sie über die Türschwelle zu schieben. Ihr Herz fing an zu hämmern, Blut rauschte in ihren Ohren. Das Draußen dehnte sich auf sie zu, bereit, sie zu verschlucken. Der Schatten des Waldes schien heranzuschleichen, näher, immer näher, wispernd und knisternd und voller unaussprechlicher Drohungen. Erst, als sie zitternd die Klinke losließ und zurücksprang, bevor die Tür zuschlug, wurde es besser. Sie schluckte mit wunder Kehle, als hätte sie stundenlang geschrien. Nur hundert lächerliche Meter … nur ein einziger erster Schritt. Den sie nicht tun konnte. Seit Jahren

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