Winterkind
überstand und ihr Schatten vor den Kutschfenstern hing.
Herr von Rapp war ihrem Blick gefolgt. „Wir haben auch unser eigenes Gepäck noch hinten dabei. Vielleicht ist Johannas Einfall eigentlich recht gut. Der Kutscher wird es leichter haben ohne uns.“
„Und wir sind schneller“, zirpte Johanna dazwischen. „Wir besuchen die Prinzessin und sind danach oben am Haus wie der Wind, und niemand merkt, dass wir gar nicht mit der Kutsche gekommen sind.“
Ihr Vater lachte. Es klang belegt. Aber er reckte die Schultern und nickte, und Sophie dachte bei sich, wie so oft: Er lässt ihr zu viel durchgehen. Eine Tochter wird nicht zu einem Sohn, wenn man sie wie einen Wildfang aufwachsen lässt … Vielleicht war es aber auch nicht nur das Kind, dem die lange Fahrt zu viel geworden war – die Fahrt und alles andere. Alles andere … Sie schüttelte den Kopf, vertrieb den Geruch von alten feuchten Steinen, die Erinnerung an endlos aufragende graue Mauern. Nicht mehr daran denken. Bald, bald waren sie wieder zu Haus.
Anton verzog das Gesicht. Sophie konnte es sich nicht verkneifen, einen bedeutungsvollen Blick auf seine Stiefel und Hosenbeine zu werfen. Sie hatten auf der Fahrt schon einiges gelitten, und der Diener war eitel.
„Kommen Sie“, sagte Herr von Rapp, „der kleine Spaziergang wird uns allen guttun. Das Mädchen kann seine Prinzessin besuchen und ich …“ Er wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. „Und wir bekommen einen klaren Kopf in der frischen Luft. Es war alles recht – recht anstrengend, nicht wahr.“
Anton und Sophie tauschten einen Blick. Der Diener nickte langsam.
Herr von Rapp drehte sich um und schlug mit der Faust gegen die vordere Kutschenwand.
„Karl“, rief er, „halt an! Wir wollen uns ein wenig die Füße vertreten.“
Johanna klatschte in die Hände.
Was dauerte es so lang? In der Halle musste Blanka sich zwingen, nicht auf und ab zu gehen, immer um das Hausmädchen herum, das ergeben bei der Garderobe stand. Das Glas in der Vordertür war milchig und ließ das schwache Winterlicht hinein, aber keinen Blick nach draußen. Dahinter war die Welt nur ein verwischtes Hell und Dunkel. Abwesend nahm Blanka die Zartheit der Motive wahr, die ins Glas geschliffen waren und die an Eisblumen erinnerten. Ganz flüchtig fragte sie sich, ob die Türeinsätze in der Glashütte entstanden sein mochten, irgendwann, bevor Johann den Betrieb übernommen und auf die moderne Massenproduktion umgestellt hatte.
Von der Halle aus konnte sie die Glashütte nicht sehen – diese Gebäude, die schräg über Herrenhaus und Park ganz oben auf dem Hügel thronten, die in ihrer Nüchternheit so gar nicht zum Herrenhaus passten und doch mit ihm so eng verbunden waren. Das Herrenhaus wandte ihnen halb den Rücken zu, als schämte es sich für sie. Und doch waren sie da, weithin sichtbar – fühlbar. Konnte sie es nicht jetzt wieder hören, das Schrillen der Schleifmaschinen, das Fauchen und Zischen aus den Öfen dort? Leiser, viel leiser, aber genauso durchdringend wie das Krächzen aus den Ulmen? Es waren vielleicht dreihundert Meter bis zur Glashütte, wie die Krähe flog, auch wenn die Straße sich in Serpentinen nach oben wand. Nicht weit. Aber niemand außer ihr schien im Haus die Geräusche noch wahrzunehmen, die von der Hügelkuppe nach unten wehten. Vielleicht hatte nur sie selbst sich immer noch nicht daran gewöhnt. Denn sie hörte sie – oft. Vor allem in der letzten Zeit.
Sie starrte blicklos gegen die Tür, es fiel ihr erst auf, als das Mädchen unruhig mit den Füßen scharrte. Harscher als nötig fragte sie:
„Ist im Salon alles bereit?“
Das Mädchen knickste und murmelte sein „Sehr wohl, gnä’ Frau“; überrascht klang es, und mit Recht. Natürlich war alles bereit, es war seit Stunden alles bereit. Sie hatte es selbst ein Dutzend Mal nachgeprüft.
„Möchten gnä’ Frau, dass ich nach dem Leichenwagen ausschauen soll?“
Blankas Rock schwang so heftig herum, dass er fast eine der Handlampen von ihrem Tischchen fegte.
„Es ist nicht der Leichenwagen!“
Die winzigen Perlen an ihren Schnüren unter dem Lampenschirm klirrten und klingelten und verwirrten sich ineinander. Blanka drückte die Hand gegen die Brust, spürte das Herz unter dem Korsett flattern im Knochenkäfig.
„Verzeihung … Verzeihung, gnä’ Frau“, stammelte das Mädchen, „ich hab Sie doch nicht verschrecken wolln!“
„Du dummes Ding! Glaubst du etwa, sie bringen Sie im Sarg mit, wie
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