Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Abendessen eingeladen und gab ein Interview. Nachdem er Chruschtschow in Göteborg verpasst hatte, folgte Mervyn ihm mit dem Zug durch die regnerische schwedische Nacht nach Stockholm. Dort bezog er ein billiges Zimmer im Hotel Hellman, wo er sein Teeset aufbaute: einen Tauchsieder, ein Teesieb und eine Tasse. Es war eine Gewohnheit, die er bis weit in meine Kindheit hinein beibehielt. Ich erinnere mich noch gut an dieses Teeset auf den fleckigen Tischen der billigen Hotelzimmer, in denen wir auf Reisen unterkamen – in der Provence, in Istanbul, Kairo, Florenz, Rom. Er hatte auch einen Teller und Besteck dabei, weil er sich die teuren schwedischen Restaurants nicht leisten konnte. Stattdessen kaufte er ein und aß auf seinem Zimmer.
Am Morgen machte Mervyn sich auf den Weg zu den Redaktionen der beiden großen Stockholmer Tageszeitungen, Aftonbladet und Stockholms-Tidningen , wo ihm die Journalisten erklärten, die Sicherheitsvorkehrungen rund um Chruschtschow herum seien sehr streng, und er solle nicht versuchen, sich dem großen Mann zu nähern. Sie versprachen, am nächsten Tag große Leitartikel zu drucken.
An jenem Abend ging Mervyn allein in einen Vergnügungspark auf einer der Inseln und sah den jungen Paaren beim Tanzen zu. Ihm fiel auf, dass sie für jede einzelne Nummer zahlen mussten. Er stellte sich vor, wie er und Mila gemeinsam durch die Drehkreuze gingen.
Um drei Uhr morgens weckte ihn ein Klopfen. Vor der Tür stand Des Zwar, ein Journalist von der Daily Mail . Mervyn versuchte, ihn loszuwerden, aber Zwar war hartnäckig. Er habe alle Hotels der Stadt nach Mervyn abgesucht, sagte er. »Die Redaktion glaubt, das wird eine gute Story, also haben sie mich rübergeschickt.«
Sie saßen auf dem Bett und redeten. Mervyn erzählte Zwar seine Geschichte, und Zwar erzählte Mervyn von seinen Leidenschaften, dem Golf und schönen Frauen, »in dieser Reihenfolge«. Zwars Geschichte, ein Meisterstück des Boulevardjournalismus, das mein Vater als ersten einer langen Reihe Zeitungsausschnitte aufbewahrt hatte, erschien am nächsten Tag.
»Dr. Mervyn Matthews, ein Forschungsstudent von 31 Jahren, dem die Erlaubnis verweigert wurde, ein russisches Mädchen zu heiraten, wartet heute Abend hier in Stockholm darauf, morgen vielleicht den sowjetischen Regierungschef Chruschtschow zu treffen. Heute wanderte er durch das Zentrum Stockholms, in der Tasche einen Brief an Chruschtschow. ›Ich gebe nicht auf‹, sagt er. Wenn Matthews versucht, die Absperrungen der schwer bewaffneten Polizisten zu durchbrechen, riskiert er, erschossen zu werden. In den Bäumen, entlang den Straßen und sogar auf Pferden sind Sicherheitsleute postiert, die seit der Entführungsdrohung gegen Chruschtschow nervös sind und Anweisung haben zu schießen, sobald jemand versucht, sich dem russischen Regierungschef zu nähern.«
Mervyn ging das Geld aus, und er hatte es nicht geschafft, sich Chruschtschow zu nähern. Am nächsten Tag flog er mit leeren Händen zurück nach Oxford.
»Ich sitze am Fenster unseres Colleges und denke an Dich«, schrieb Mervyn in seiner wunderschönen geneigten russischen Handschrift an Mila. »Dieser verdammte [Post]streik geht weiter, wohl noch eine ganze Weile. Also habe ich einen Freund gebeten, diesen Brief für mich in Paris aufzugeben. Eine Woche ist vergangen, und ich habe nichts von Dir gehört. Ich warte so sehr auf Deinen Anruf.«
Seine Sprache war in diesen allerersten Briefen sehr vorsichtig, sein Stil förmlich. Es war, als teste er ihre Reaktion, ihre Erwartungen an ihn. »Ich würde selbst anrufen, aber ich will nicht stören … Ich setze immer noch alles daran, eine Lösung für unsere Frage zu finden. Du kannst Dich ganz und gar auf mich verlassen. Ich vergesse meine Mila keine Sekunde lang. Ich habe Deine Fotos, die alten, aber ich habe Angst, sie mir anzuschauen. Sie sind in einem Umschlag. Ich weiß, sobald ich Dein Gesicht sehe, überwältigt mich ein solcher Kummer, dass ich es nicht ertrage. Alles ist so leer ohne Dich, so leer … Es ist heiß und drückend, ein typischer Oxforder Sommer. Das College ist wie immer, aber ich habe mich verändert. Ich will wissen, wie es Dir geht – es ist leichter für mich, wenn ich weiß, dass Du nicht verzweifelst. Wenn ich an unseren Abschied denke, zerreißt es mir das Herz. Aber keine Sorge – dabei belasse ich es nicht. Denk immer daran, dass ich viele Schritte unternehme, damit wir unser gemeinsames Glück erringen. Kümmere Du Dich um
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