Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
sie würden mich kostenlos mitnehmen, wenn ich kein Geld für die Fahrt hätte. Ich konnte lange nicht weg und trieb mich dort herum, hoffte auf ein Wunder, das Dich zurückbringen würde.«
11
Mila und Merwusja
Meine Liebe ist stärker als ihr Hass.
Mila an Mervyn
Mervyn erwachte bei Vogelgezwitscher. Draußen war ein heller Sommermorgen in einem gepflegten englischen Vorortgarten. Aus der Küche unten hörte er das Klappern des Frühstücksgeschirrs und das Gedudel der BBC im Radio. Hier im Bett stürmten die Ereignisse der letzten Tage wie das Nachspiel eines Albtraums auf ihn ein.
»Er ist ein sturer Narr, und er sollte es besser wissen«, hatte seine Mutter tags zuvor auf ihre unverblümte Art zum Daily Express gesagt, und was die Sturheit anging, so hatte sie sicher recht. Doch es war mehr als das. Mervyn hatte sein Leben lang gegen die provinzielle Plackerei gekämpft, für die andere ihn bestimmt hatten. Und nun wurde ihm klar, dass er auch für Mila kämpfen musste.
An jenem Morgen beschloss Mervyn, alles in seiner Macht Stehende daranzusetzen, Mila aus Russland zu holen. Das war kein unbesonnener Entschluss. Pragmatisch, wie er war, gab er sich fünf Jahre. Wäre die Sache dann immer noch aussichtslos, würde er sich mit seinem Scheitern abfinden und weitermachen.
Mervyn installierte in dem kleinen Haus seines Halbbruders Jack in Barnes ein Büro. Von dort aus tätigte er Anrufe und nahm die Fäden seines einstigen Lebens wieder auf. Zuerst rief er im St Anthony’s an. Bill Deakin, der Rektor des Colleges, hatte mit wachsender Besorgnis die Tiraden seines Studenten in Moskau in den Zeitungen verfolgt. Er schlug für den nächsten Abend ein gemeinsames Essen in Scot
Am Rande: Mervyn (ganz rechts unten) 1964 in seiner Klasse am St Antony’s College. Seine Abenteuer in Russland sollten sich bald als fatal für seine Karriere in Oxford erweisen.
t’s Fish Restaurant in Mayfair vor. Deakin war ein imposanter Mann, aristokratisch bis in die Fingerspitzen. Er war im Krieg ein enger Vertrauter Churchills gewesen und zusammen mit Sir Fitzroy Maclean mit dem Fallschirm über Jugoslawien abgesprungen, um Kontakt zu Titos Partisanen herzustellen. Obwohl Mervyn Deakin mochte und respektierte, war dieser genau die Art glatter Repräsentant des Establishments, der Mervyn in die Defensive trieb.
Deakin hatte Mervyn kaum wahrgenommen, ehe er nach Moskau ging, doch nun hatte der schüchterne Waliser die Sünde begangen, den Namen des Colleges auf die Titelseiten zu bringen, und so war es Zeit für ein ernsthaftes Gespräch. Das Essen war teuer und mittelmäßig – mein Vater fand Alexeis Gastfreundschaft in Moskau weit überlegen –, doch Deakin war charmant und kippte jede Menge Whiskys mit Soda. Nachdem er Mervyn die ganze Geschichte entlockt hatte, war es seine Sorge, zunächst sicherzustellen, dass Mervyn in Moskau in keine kriminellen Aktivitäten verwickelt war, die dem Ansehen des Colleges schaden könnten. Beim Kaffee schlug er vor, mein Vater solle mit den Sicherheitsleuten über seine Erfahrungen sprechen. Draußen winkte Deakin ein Taxi heran und überließ es meinem Vater, zur U-Bahn zu laufen. Meinem Vater fiel auf, wie freigebig er Trinkgelder von zehn Shilling gab.
Schon als er das Flugzeug in Moskau bestieg, schmiedete Mervyn einen Plan, der kühn genug war, seinen Handlungsdrang zu befriedigen. Nikita Chruschtschow plante in der folgenden Woche einen Schwedenbesuch mit seiner Frau. Mervyn wollte ihnen bei dieser Gelegenheit einen persönlichen Brief überreichen, in dem er sie anflehte, zwei ganz gewöhnlichen Menschen zu helfen, heiraten zu dürfen.
Irgendwie – entweder aus der Presse oder über seinen Bruder Jack – bekam Mervyns Mutter Wind von seinem Plan. »Bitte, Mervyn, gib mir zuliebe die Idee auf, nach Skandinavien zu reisen und Chruschtschow zu treffen«, schrieb sie ihrem Sohn aus Swansea. »Er hat einen riesigen Leibwächter dabei, und Du könntest erschossen werden.« Mervyn ignorierte ihren Rat, wie noch so oft in den Jahren danach.
Er stieg in ein Flugzeug nach Göteborg, landete aber erst, als die Chruschtschows bereits wieder abflogen. Die schwedische Polizei, die aus den Zeitungen von seinem Besuch wusste, wartete auf Mervyn und war sehr erleichtert, als er zu spät ankam. »Chruschtschow weg«, sagte ein schwedischer Polizist in Zivil zu Mervyn und wies in den fahlen Sonnenuntergang.
Mervyn war beim Chefredakteur der Göteborgs Handels- och Sjöfartstidning zum
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