Wintermädchen
sich im Rückspiegel. »Ich krieg nie den Ball zugespielt.«
Emma ist eine Matratze, die vom Laster fiel, als ihre Eltern sich trennten. Ich kann mich nicht mehr dran erinnern, wann ihr Vater das letzte Mal angerufen hat. Jennifer ist jedenfalls fest entschlossen, aus Emma ein perfektes kleines Mädchen zu schnitzen, das sich in eine perfekte junge Dame verwandeln wird, deren glänzende Leistungen der Welt beweisen werden, dass sie eine absolut perfekte Mutter hat.
Man kann doch einer Matratze keinen Vorwurf machen, wenn man sie nicht gut genug festgebunden hat.
Ich öffne meine Wagentür. »Also los. Ich spiel dir den Ball zu.«
Sie wirft den Laptop neben sich. »Nein, du hast doch gesagt, du musst Hausaufgaben machen.« Plötzlich kann sie gar nicht schnell genug aussteigen. »Tschüss, Lia! Fahr vorsichtig.«
Ich brauche ein paar Sekunden, um zu kapieren, was gerade passiert ist. Eins. Zwei. Drei. Wieder bringen die Gerüche meine Nervenzellen durcheinander.
Ich lasse die Scheibe herunter. »Emma, warte mal!«
Langsam kommt sie zum Wagen zurückgelaufen, den Fußball fest an sich gepresst. »Was ist?«
»Ich hab’s mir anders überlegt. Ich will dir beim Training zusehen. Wo kann ich sitzen?«
Sie macht große Augen. »Nein, das geht nicht.«
»Warum denn nicht? Andere Leute schauen doch auch zu.«
»Ähm, na j a …« Sie betrachtet ihre Stollenschuhe und murmelt: »Du kannst ja vom Auto aus zugucken. Da ist es wärmer.«
Vom Platz hallen Rufe herüber, Neunjährige, bereit zum Angriff. Mannschaften, die in die Liga kommen wollen, geben alles.
»Emma, schau mich an!« Wie hat sich Jennifers Stimme in meinen Mund geschlichen? »Warum willst du nicht, dass ich aus dem Auto steige?«
Sie tritt in den Kies. Kleine Steinchen fliegen nach oben und klickern gegen den Lack meiner Tür.
»Der Trainer hat mich gefragt, ob es stimmt, dass du Krebs hast.« Ein zweiter Kiestritt. »Weil er gehört hat, dass du im Krankenhaus warst, un d … na ja. Ich hab gesagt, es stimmt.« Pfiffe schrillen über den Sportplatz. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.«
»Schon gut«, sage ich. »Ich versteh dich. Mach dir deswegen keine Gedanken.«
Der Ball fällt ihr aus der Hand und rollt Richtung Platz. »Du bist nicht sauer auf mich?«
»Ich kann nie sauer auf dich sein, du Dummi.«
Endlich hebt sie den Kopf. »Danke, Lia.«
»Und du hast ja Recht. Ich habe wirklich jede Menge Hausaufgaben auf.« Ich lasse den Motor an. »Meine Lehrer werden dir ewig dankbar sein, dass du mich zwingst, sie zu machen. Bis später dann?«
Sie lächelt. »Okay. Ich glaube, es sind noch ein paar Chips übrig, falls du Hunger hast.«
Ich fahre das Fenster wieder rauf.
Ich wünschte, ich hätte Krebs.
Für diesen Wunsch werde ich in der Hölle schmoren, aber es ist nun mal die Wahrheit.
008.00
An der Tankstelle steht die Luft; es riecht nach Diesel und dem ranzigen Frittierfett von McDonald’s gleich nebenan. Vor fünf Tagen wog ich 46.8 6 Kilo. An Thanksgiving musste ich essen (mit lauter Geiern an einem Tisch), aber seither hab ich mich fast nur von Wasser und Reiswaffeln ernährt. Ich bin so hungrig, dass ich meine rechte Hand abnagen könnte. Ich stecke mir drei Kaugummis in den Mund, schmeiße Emmas Chips aus dem Wagen und mache den Tank voll. Ich bin widerlich.
… Als ich zum ersten Mal stationär aufgenommen wurde, war ich grün und blau und rot, weil ich das Bewusstsein verloren hatte und den Wagen vor uns rammte, während Cassie schrie und das Lenkrad explodierte. Dieser Körper wog 4 2 Kilo.
Meine Zimmernachbarin im Gefängnis New Seasons war eine lange, schrumplige Zucchini, die im Bett heulte und sich den Rotz über die Wangen laufen ließ. Die Leute vom Personal hatten allesamt den Körperumfang von Walen und schwitzten. Die Krankenschwester, die die Medikamente verteilte, war so fett, dass ihre Haut spannte. Wenn sie sich zu schnell bewegt hätte, wäre alles aufgeplatzt, und ihre gelbe Füllung wäre herausgespritzt und hätte ihr Disney-T-Shirt eingesaut.
Ich biss mich durch die Tage, abgeknabberte Maiskolben, deren Körner mir im Mund zerplatzten und zwischen den Zähnen hängen blieben. Abbeißen, kauen, schlucken. Und noch mal. Abbeißen, kauen, schlucken. Und noch mal.
Ich war ein braves Mädchen, weil ich mir keine Löcher in die Haut bohrte (alle Narben wurden notiert) oder depressive Gedichte schrieb (Tagebücher wurden bei jeder Sitzung kontrolliert), und ich aß und aß. Sie
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