Wintermädchen
erschütternd.«
Der Autopsiebericht wird gegen Ende der Woche erwartet. Ein Beerdigungstermin stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
Ich strecke mich auf der Liege aus. Der Kissenbezug aus Papier raschelt in meinen Ohren wie Radiorauschen.
Der Gong ertönt. Ein Fluss aus Körpern ergießt sich in die Halle, und Stimmen flüstern, Cassie sei ermordet worden/nein, sie hat sich erhängt/nein, sie hat sich ins endgültige Aus geraucht oder gekokst. Die hat doch alles ausprobiert, habt ihr von der Sache unter der Zuschauertribüne gehört/im Einkaufszentrum/im Sommercamp? Die war immer auf der Überholspur/ist ohne Fallschirm gesprungen schnallte sich einen Gürtel mit Gewichten um und hüpfte ins Meer.
Sie opferte sich freiwillig dem großen, bösen Wolf und schrie nicht mal, als er zubiss.
… ihr lebloser Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei n …
Die Jungs sind wieder fort. Die Krankenschwester nimmt mir die Zeitung weg und breitet eine dünne Decke über mich.
»Kann ich noch eine kriegen?«, frage ich. »Mir ist kalt.«
»Natürlich.« Sie geht zum Vorratsschrank, ihre Schuhe quietschen über den gebohnerten Boden.
»Wissen Sie irgendwas über die Beerdigung?«, frage ich.
»Das Schulratsamt hat eine Mail geschickt«, sagt sie. »Die Totenwache findet Mittwochabend in der St.-Stephen-Kirche statt. Beerdigt wird sie dann am Samstag.« Sie kommt zu mir herüber, die Arme schwer beladen. »Jetzt schlaf ein bisschen und denk dran, deinen Orangensaft zu trinken, wenn du aufwachst.«
»Versprochen.«
Sie deckt mich mit allen Decken zu, die sie hat (fünf) und zusätzlich noch mit den Jacken aus dem Fundsachenkarton, weil mir eiskalt ist. Ich tauche in die Achselhöhlen fremder Menschen ein, schmecke ihr wildes Salz und schlafe ein, um alles zu vergessen.
007.00
Emma sitzt angeschnallt auf dem Rücksitz und guckt einen Film auf ihrem Laptop. Dabei isst sie Kartoffelchips und schüttet einen Slushie in sich hinein.
»Erzähl bloß Jennifer nichts davon«, sage ich.
»Hm.«
»Im Ernst. Sonst brüllt sie rum.«
»Ich hab’s kapiert. Nix erzählen, sonst brüllt sie rum.« Emmas Augen kleben am Bildschirm, während jeder einzelne Kartoffelchip auf einem rosafarbenen Förderband in ihrem Mund verschwindet.
Wir haben uns verfahren. Mal wieder. Mein Vater will nicht, dass ich ein Navi kaufe, weil er meint, ich müsse lernen, mich selbst zurechtzufinden. Wie soll ich wissen, wo ich hinmuss, wenn ich mich dauernd verfahre? Ich werd mir eins von Jennifer wünschen. Bald ist Weihnachten.
Wir kommen an einer verfallenen Scheune mit kaputtem Dach vorbei, und neben einem Geschwindigkeitsschild liegt eine alte, fleckige Matratze. Würde man nicht merken, wenn einem die Matratze vom Wagen fällt? Vielleicht lag sie ja hinten auf der Ladefläche eines Lasters, zusammen mit dem gesamten Besitz eines Mädchens, das mit einem Typ unterwegs war, den es im Internet kennengelernt hatte. Dem es sich mit Leib und Seele versprochen hatte. Er stellte ihr drei Mahlzeiten am Tag und ein Haus in Aussicht mit dem Hinweis, ein paar zusätzliche Möbel könnten nicht schaden. Als die Matratze herunterfiel, hielt er nicht an. Eine neue Ehefrau verdient ein sauberes Bett, pflegte er zu sagen.
Vielleicht kommt anderthalb Kilometer hinter mir ja eine Bikerin in Lederkluft angerauscht, stark wie ein Kerl. Und jede Sekunde kann irgend so ein Idiot sie schneiden, und sie gerät ins Trudeln, und das Motorrad wird sich überschlagen, woraufhin sie schreit und schreit, weil sie mal wieder ihre Flügel vergessen hat und die Schwerkraft keine Fehler duldet.
Und dann –
wird sie auf dieser ekligen Matratze landen. Jawohl, und sie wird mit drei gebrochenen Rippen, einem Oberschenkelhalsbruch und einer überstreckten Halswirbelsäule davonkommen, aber die vom Rettungsdienst werden kein Wort darüber verlieren. Sie werden immer nur davon erzählen, wie die fleckige Matratze am Straßenrand dem Mädchen das Leben rettete.
Es ist wohl der Geruch von Emmas Kartoffelchips, der all das in meinem Kopf auslöst.
***
Als ich den Sportplatz endlich gefunden habe, hat das Training bereits begonnen. Emma will im Wagen sitzen bleiben, bis ihr Film zu Ende ist.
»Du musst los«, sage ich.
Stöhnend klappt sie den Laptop zu. »Ich hasse Fußball.«
»Dann sag ihnen, dass du aufhörst.«
»Mom sagt, die Saison ist fast vorbei und ich darf nicht.«
»Na, dann geh hin und spiel mit. Macht doch Spaß!«
Unsere Augen treffen
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