Wintermaerchen
wer weiß da schon Bescheid? Immer wieder hört man von Leuten, die dorthin gehen und nie zurückkommen. In Brooklyn gibt es Straßen, von denen noch niemand gehört hat, zum Beispiel den Funyew-Ogstein-Crypt Boulevard.«
»Das klingt nach einem jüdischen Namen. Aber du hast Recht, die vorhin genannten Straßen laufen auch durch Manhattan und Brooklyn. Sie überschneiden und überlappen sich sogar an manchen Stellen.« Aus Pearlys Augen zuckten elektrische Blitze.
Blacky Womble wurde manchmal nicht klug aus seinem Anführer, besonders wenn Pearly ihn nachts losschickte, um ein paar Liter frische Ölfarbe zu holen. Aber was er anpackte, das hatte Hand und Fuß. Blacky liebte es, Pearly zu beobachten, wenn er ein neues Gaunerstück ausschwitzte. Der Boss verfolgte sein Ziel mit der Hartnäckigkeit eines Ringkämpfers und der Angriffslust eines Boxers, zauberte buchstäblich Schätze vom Himmel herab und wirkte manchmal so, als stünde er unter dem Bann eines Orakels.
»Die Avenuen der Neuner und Zwanziger sind miteinander verschlungen wie kopulierende Schlangen«, fuhr Pearly fort. »Insgesamt sind sie mehrere tausend Meilen lang.«
»In welcher Richtung, Pearly?«
»Nach oben, schnurgerade nach oben!«, antwortete Pearly und zeigte mit dem Finger an die dunkle Zimmerdecke. Dabei verdrehte er die Augen derart, dass nur noch das Weiße von ihnen zu sehen war. Blacky Womble folgte seinem Blick und starrte so angestrengt in die Finsternis, dass er tatsächlich graue Spiralen und bläuliche Blitze zu sehen vermeinte. Ihm war, als schwebte er über einem unendlich tiefen Abgrund. Plötzlich war er schwerelos. Ja, er flog! Die verschlungenen Straßen, die Pearly für kurze Augenblicke vor sein inneres Auge gezaubert hatte, schienen ihn geradezu anzusaugen. Als er Sekunden später wieder auf dem Boden der Wirklichkeit stand, musste er feststellen, dass Pearly ihm kühl und sachlich ins Gesicht blickte wie der Angestellte einer Wäscherei kurz nach Weihnachten.
»Angenommen, es gibt die Saraganda-Street und die Avenuen der Neuner und Zwanziger …«
»… und die Diamond Row«, fiel Pearly Blacky Womble ins Wort.
»… und die Diamond Row« wiederholte Blacky. »Wie können wir an das viele Gold herankommen, das wir für dein goldenes Zimmer brauchen? Versteh mich nicht falsch, Pearly, mir gefällt die Idee, aber wie sollen wir es schaffen?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen es aus einem der Goldtransporter stehlen, die durch die Narrows fahren.«
Blacky Womble war sprachlos. Die Short Tails waren mit Sicherheit die mächtigste, tüchtigste und waghalsigste Bande, aber sie hatten trotzdem noch nie eine bedeutende Bank ausgeraubt, das heißt nein, einmal hatten sie eine Zweigstelle überfallen, eine Filiale, die allerdings jeder Anfänger mit einem Büchsenöffner hätte knacken können. Die Goldfrachter waren jedoch ein Ding der Unmöglichkeit, sie schieden von vornherein aus. Denn erstens wusste niemand so recht zu sagen, wann sie im Hafen festmachten, und außerdem wurde ihre Route von Zufallsgeneratoren bestimmt, nämlich von sich drehenden Drahttrommeln, in denen Mah-Jong-Steine mit eingravierten Längen- bzw. Breitengraden durcheinanderpurzelten. So kam es, dass die Goldschiffe in einem unglaublichen Zickzackkurs über die Meere kreuzten. Auf dem Weg von Peru nach New York konnte es beispielsweise durchaus geschehen, dass eines dieser schnellen Schiffe fünfmal Yokohama ansteuerte. Die viel befahrenen Schifffahrtswege mieden sie. Unerwartet tauchten sie eines Tages am Horizont auf und waren ebenso schnell wieder verschwunden. Die meisten New Yorker wussten nicht einmal von ihrer Existenz. Sie ahnten nicht, dass die Schätze ganzer Königreiche in ihrer unmittelbaren Nähe in die Stadt sickerten wie der Gezeitenstrom ins Schilf.
Von den Millionen Bewohnern der Stadt hatten höchstens zehntausend einen der Goldfrachter von weitem an dem eigens zu diesem Zweck gebauten, schwerbewachten Pier gesehen, wo ein Schiff innerhalb einer halben Stunde entladen werden konnte. Höchstens tausend hatten begriffen, was dort vorging; und von diesen tausend waren neunhundert anständige Bürger, denen nie der Gedanke an Raub und Diebstahl in den Sinn gekommen wäre. Von den restlichen hundert bestand die Hälfte aus menschlichen und körperlichen Wracks; sie hätten nicht einmal die Kraft aufgebracht, sich selbst zu bestehlen. Zwanzig Personen hätten dem Goldschiff theoretisch gefährlich werden können, aber sie
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