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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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hundert«, sagte Pearly mit Bestimmtheit. Seine Wut hatte sich schon ein wenig abgekühlt. Der getreue Blacky Womble wusste nicht wohin vor lauter Angst.
    *
    Es war in der Tat eine Ehre, auf dem Friedhof der Ehrenwerten Toten bestattet zu werden. Pearly hatte bestimmt, dass die Short-Tail-Banditen ihre letzte Ruhe möglichst nahe an der Hölle finden sollten. Die Bestattung hatte nach seinem Willen die größtmöglichen Gefahren für Leib und Leben jener Männer zu beinhalten, die damit betraut wurden, einem toten Kameraden das letzte Geleit zu geben. So erklärt es sich, dass alle im Einsatz gefallenen Short Tails zu einer geheimen Grabstätte gebracht wurden, die tief unter der Stadt in einer Verteilerkammer der Kanalisation lag.
    Um die Versorgung Manhattans mit ausreichend Wasser zu gewährleisten, waren beidseitig des Harlem River mit riesenhaftem Aufwand zwei unterirdische, eintausend Fuß lange Stollen in das Gestein gesprengt worden. Sie wurden von einem sogenannten Drucktunnel gespeist. Ungefähr auf halbem Weg zu diesem Tunnel durchliefen die beiden Stollen eine Sickerkammer, die 25 Fuß im Quadrat maß und ebenso hoch war.
    Vor Jahren, als während eines besonders regenarmen Sommers dieses Kanalisationssystem monatelang außer Betrieb gewesen war, hatten die Short Tails in die Felswände jener Kammer einhundert wasserdicht verschließbare Grabnischen gehauen. Auch damals war es trotz des niedrigen Wasserstandes sehr beschwerlich gewesen, sich zehn Minuten lang auf einem schmalen Floß durch den moosbewachsenen Tunnel zu bewegen, der den Männern so eng vorkam wie ein Kanonenrohr. Ständig mussten sie darauf achten, dass sie sich nicht die Ellbogen an dem rauen Gestein aufschlugen. Wenn sie nach der mühsamen Fahrt endlich in der pechschwarzen Sickerkammer ankamen, entzündeten sie schleunigst ein paar Kerzen und lauschten angstvoll dem schrillen Pfeifen der Ratten. Es war ein ungutes Gefühl, über eine Meile von der Oberfläche der Erde, von frischer Luft und Freiheit entfernt zu sein. Ringsumher gab es nichts als massives Felsgestein, Moos, Geröll und schmutziges Wasser.
    Jederzeit konnten im Jerome-Park-Stausee die Schleusen geöffnet werden. Dann schoss das Wasser so schnell durch die engen Stollen, dass auch ein galoppierendes Pferd nicht hätte mithalten können. Deshalb kam es bei einer Bestattung für die beiden damit beauftragten Banditen vor allem darauf an, den Leichnam des toten Kumpanen möglichst schnell durch den Tunnel in die Kammer zu schaffen und ihn dort in eine der Grabnischen zu schieben. Danach galt es, sich schleunigst auf den Rückweg zu machen, bevor die todbringende Flut angebraust kam.
    Als E. E. Henry (eine Zeitlang Peters Partner und einer der besten Woola-Boys der Short Tails) bei dem erfolglosen Versuch, Raubüberfälle auf Züge mitten in der Stadt einzuführen, von einer herandonnernden S-Bahn erfasst und zerstückelt wurde, hatten sich zwei Short-Tails namens Romeo Tan und Bat Charney freiwillig erboten, das, was von ihm übrig geblieben war, zu der Gruft zu bringen. Dies war in der Tat mutig, denn E. E. Henry war an einem kristallklaren Oktobertag aus dieser Welt geschieden, nachdem es zwei Wochen lang ununterbrochen geregnet hatte. In den nördlichen Landesteilen flossen die Stauseen in regelmäßigen Abständen über, wie mechanische Webstühle, die pausenlos Silberbrokat ausspucken. Damit das Auffangbecken im Jerome Park nicht überbordete, wurden immer wieder ganze Sturzfluten eiskalten Wassers durch den Drucktunnel abgelassen.
    Romeo Tan und Bat Charney stiegen zu später Stunde in einer mondhellen Nacht in die Kanalisation ein. Das war mühsam, denn sie mussten mit den Zähnen auf eine Schnur beißen und daran zwei kleine Säcke hinter sich herziehen, die mit E. E. Henrys sterblichen Überresten gefüllt waren. Der Boden des waagerecht verlaufenden Kanalisationstunnels war mit einer Handbreit kalten Wassers bedeckt. Während die beiden Männer plantschend vorwärtskrochen, stieg ihnen der frische Geruch von Sauerstoff in die Nase. Das bedeutete, dass das Wasser frisch war. Wären im Jerome Park die Schleusen geöffnet worden, während Romeo Tan und Bat Charney auf allen vieren zu der Sickerkammer krochen, dann hätte sie ein besonders grässlicher Tod ereilt, denn das dicke Rohr war zu eng, als dass sie daran hätten denken können, kehrtzumachen und zu fliehen. Ab und zu hielten sie an und lauschten angestrengt, aber es war nichts zu hören. Endlich erreichte

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