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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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hatten ihre Talente auf andere Dinge gerichtet, denn sie waren Opernsänger, Verleger, Generäle oder dergleichen geworden.
    So blieben also noch dreißig übrig, von denen zwanzig tatsächlich als Verbrecher das notwendige Format gehabt hätten, leider jedoch nicht über das erforderliche Organisationstalent, über ausreichende Mittel und über eine geeignete Gefolgschaft verfügten. Fünf hätten es gern versucht, aber sie brüteten Pläne aus, die in ihrer Stümperhaftigkeit lächerlich waren. Nur vier hätten es wirklich schaffen können, wären sie nicht fatalerweise durch Unfälle, allerlei Ablenkungen und unzeitgemäße Verdauungsstörungen gehindert worden. Aber auch ohne solches Missgeschick hätten sie ihrer Sache durchaus nicht sicher sein können.
    Folglich blieb einzig und allein Pearly Soames übrig. Doch auch der stand vor einer schier unmöglichen Aufgabe. Die Goldschiffe gehörten zu den schnellsten und wendigsten der ganzen Welt, sie waren gut bewaffnet und gepanzert. In den Tiefen ihrer Rümpfe gab es staunenswerte Sicherheitskammern, die nur geöffnet werden konnten, wenn ein Schiff längsseits am Pier lag. Dann wurde von einem speziellen Mechanismus eine Reihe besonders harter Edelstahlstäbe aus dem Schiffsrumpf gezogen. Sie sicherten dicke Panzertüren mit Zeitschlössern, hinter denen sich zehn Hochsicherheitstresorräume befanden.
    Blacky Womble war zwar Kaukasier, aber er hatte kohlrabenschwarzes Haar und trug, im Gegensatz zu den anderen Short Tails, immer eine schwarze Lederjacke. Längst hatte er begriffen, dass Pearlys Farbentick vor nichts Halt machen würde. Es war eine Gratwanderung zwischen Wahnsinn und Genialität. Pearlys Gier nach Farben bewirkte, dass er sich auf immer gewagtere und schwierigere Unternehmungen einließ. Dadurch sicherte er sich jedoch auch die Treue und Gefolgschaft seiner Bande, denn er hielt die Männer ständig in Atem. Irgendwann aber würde er scheitern, das war allen klar. Für Blacky sah es so aus, als sei es nun so weit. »Pearly, ich habe Angst um dich«, sagte er geradeheraus.
    Pearly lachte. »Du denkst wohl, ich sei endgültig übergeschnappt!«
    »Ich behalte alles für mich, das verspreche ich. Du kannst es dir also nochmal überlegen.«
    »Mein Entschluss steht fest. Beim nächsten Treffen werde ich die ganze Bande in meine Pläne einweihen. Sorg dafür, dass alle kommen. Wir werden uns am nächsten Donnerstag um Mitternacht auf dem Friedhof der Ehrenwerten Toten treffen.«
    Sie trafen sich stets möglichst tief unter oder weit über der Erde, denn hätten die geheimen Beratungen der Diebesbande an »gesunden« Orten, beispielsweise in Sälen oder auf öffentlichen Plätzen stattgefunden, dann wären die Short Tails möglicherweise zu offenherzigen, gut gelüfteten, harmlosen und besonnenen Demokraten geworden. Pearly hielt sie lieber in grabesähnlichen Verliesen oder auf dem Dach turmhoher Gebäude, wo sie entweder die Unterwelt oder einen gähnenden Abgrund vor Augen hatten. An solchen Orten heckte er seine Komplotte aus und sorgte dafür, dass er die Short Tails fest im Griff behielt. Die Banditen empfanden es als Privileg, sich auf den Piers der Brooklyn-Bridge zu versammeln, aber sie trafen sich auch in großen Tanks, wo ihnen das Wasser bis an die Hüften reichte; sie kauerten sich schreckerfüllt zwischen die Zinken der Krone oben auf der Freiheitsstatue; sie ließen sich in der Doyer Street in ein Kellerloch unterhalb irgendeiner Opiumhöhle pferchen, oder sie scharten sich am Rand der größten Müllkippe zusammen, wie Leute, die mitten in der Nacht dicht neben dem Niagarafall ein Picknick veranstalten.
    Blacky Womble hätte sich fast verschluckt. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er Pearly an. Wenn die Versammlung auf dem Dach des höchsten Gebäudes von New York oder im Hinterhof des Polizeipräsidiums einberufen worden wäre, hätte er Verständnis dafür gehabt. Aber der Friedhof der Ehrenwerten Toten!
    »Keine Widerrede! Tu, was ich dir gesagt habe!«, befahl Pearly, bevor Blacky auch nur den Mund öffnen konnte.
    »Aber ich will doch nur …« Weiter kam Blacky nicht. Der Ausdruck in Pearlys Augen ließ ihn verstummen. Ihm war, als blickte er geradewegs in die Schmelzkammer eines Hochofens. Wenn er nicht augenblicklich nachgab, dann würden sengende, weißglühende Blitze aus diesen Augen hervorbrechen und ihn verbrennen, das wusste Blacky. Deshalb fragte er kleinlaut, ob Pearly die gesamte Bande zu sehen wünschte.
    »Ja, alle

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