Wintermörder - Roman
nicht.«
Schockiert stehe ich vor der Tür. Weiß nicht, was ich tun soll, bis mir Frau Lipska einfällt. Ich renne hinunter ins Erdgeschoss und schlage gegen ihre Tür.
»Ich bin’s«, rufe ich.»Frau Lipska, ich bin’s. Ich bin zurück aus Deutschland.«
Einen Moment Stille, und dann höre ich sie schwer atmen. Es dauert eine Weile, bis sie versteht, wer ich bin. Als ich öffne, steht vor mir tatsächlich die alte Frau Lipska. Ihre Haare zittern, wenn sie spricht, wie früher. Nur ist sie jetzt kleiner als ich.
Sie zieht mich in die Wohnung.
»Zosia«, sagt sie.»Zosia Lisowska.«
»Wo ist meine Mutter? Wo ist Leszek?«
Sie fängt an zu weinen. Ihre weißen Locken zittern noch stärker als sonst.
»Weg«, schluchzt sie. »Weg. Sie haben wochenlang auf dich gewartet, aber nichts gehört. Leszek war so krank, und sie ist trotz der Russen mit ihm nach Lwów zu deinen Großeltern gefahren. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört.«
Epilog
Der Wind wehte ihnen Schneeflocken ins Gesicht und zerrte an ihren Mänteln, als Myriam Singer und Henri Liebler nebeneinander den Weg hinauf zum Wawel gingen. Sie hatten beschlossen, die Zeit bis zur ihrer Abreise am nächsten Morgen dazu zu nutzen, sich die Stadt von oben aus anzusehen. Es war vier Uhr am Nachmittag und dämmerte bereits. Die Burg war hell erleuchtet und die Touristen längst in ihren Hotels oder in einer der vielen Kneipen, die rund um den Hauptplatz junge Leute anzogen.
Der Platz auf dem Wawel lag schweigend unter dem abnehmenden Mond. Die Aussicht war herrlich. Ein stiller Abend, die Stadt verschneit, das beleuchtete Krakau mit der Silhouette der unzähligen Kirchtürme.
Am Vormittag hatten sie Denise und Frederik zum Flughafen begleitet. Als die Tür sich hinter ihnen schloss, wusste Myriam, dass Denise diese Stadt nicht für immer verließ, denn sie ließ einen Menschen zurück, der Teil ihres Lebens war. Auch wenn sie es noch nicht wahrhaben wollte.
An den Prozess, der Denise bevorstand, dachte sie lieber nicht. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt ausreisen durfte. Nein, kein Wunder. Berechnung. Das polnische Gericht hatte sich auf eine Kaution eingelassen. Sie hatten die Summe auf fünfzigtausend Euro hochgehandelt, die Summe, die sie bei Udo Jost gefunden hatten und die nun dem Gericht endgültig gehörte. Am Ende mussten die Winklers doch noch ein Lösegeld zahlen.
Mit der Maschine, in der Denise nach Frankfurt zurückkehrte, war Karolina Matecki zusammen mit Carl Winkler angekommen. Karolina hatte Denise nicht begegnen wollen.
Als Carl Winkler das Zimmer betrat und zum ersten Mal der Frau begegnete, die seine leibliche Mutter war, nahm Frederik seine Hand und führte ihn zum Bett. Sie nannte ihn Karol und Frederik Leszek, bevor sie wieder in ihre eigene Welt verschwand.
Karolina Matecki würde sich um ihre Großmutter Zofia kümmern. Carl hatte die volle Verantwortung übernommen. Er würde das Lösegeld zahlen, das Leszek Matecki nie gefordert hatte.
Weder Myriam noch Henri sprachen ein Wort. Es war alles gesagt. Mit dem Rest musste jeder für sich klarkommen. Sie wusste, dass er sich noch immer mit Gewissensbissen herumschlug, weil er Matecki vertraut hatte. Er war nicht den offiziellen Weg gegangen.
»Was macht das schon?«, hatte sie ihn beruhigt. »Das ist nun einmal nicht immer möglich.«
»Das sagst ausgerechnet du? Du hast uns doch immer wieder gepredigt, dass es später in einem Prozess wichtig ist, sich an die Vorschriften gehalten zu haben. Keine Verfahrensfehler in Kauf genommen zu haben.«
»Man kann sich nicht immer an die Regeln halten«, hatte sie geantwortet.
Was sie selbst betraf, so hatten die Ereignisse der letzten Tage etwas in ihr verändert. Vielleicht wartete nach ihrer Rückkehr vor ihrem Haus der weiße Opel auf sie. Die Erkenntnis, dass die Menschheit den Dschungel nie verlassen hat, machte Angst, doch gleichzeitig war Myriam bereit, nicht nachzugeben. Ihr Leben lang hatte sie gekämpft, und sie würde es weiter tun. Um Anerkennung, um Liebe, um Erfolg, um Selbstständigkeit, um Gerechtigkeit. Das war es, was ihr Leben ausmachte.
Als sie den Wawel auf der Rückseite verließen, schreckte Myriam zusammen, als etwas aufflatterte. Erst jetzt bemerkte sie, dass Hunderte von Vögeln eng nebeneinander in den Bäumen saßen, den Kopf im schwarzen Gefieder verborgen.
»Was sind das für Vögel?«, fragte Myriam.
»Krähen«, antwortete Henri.
»Was machen die dort in den Bäumen?«
»Sie warten«,
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