Winternacht
1. Kapitel
D er Abend war still. Der Schnee driftete lautlos zu Boden, wo er sich zu einer dicken Schicht verfestigte, die die ganze Stadt überzog. Favonis, mein metallicblauer Pontiac GTO, Baujahr 1966, glitt über die vereisten Straßen. Wir mussten vorsichtig sein. Die Schattenjäger trieben sich in den Vororten herum und suchten nach den wenigen, die der Kälte trotzten. Sie waren gierig und erbarmungslos und hatten New Forest im Staat Washington zu ihrem Jagdrevier auserkoren.
Nicht minder gefährlich waren Geoffrey und die Vampire, die in voller Stärke durch die Straßen patrouillierten. Gruppen von dunklen Gestalten in langen, schwarzen Staubmänteln, die Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, wanderten durch die Einkaufszonen und suchten die Menschenmenge nach Mysts Jägern ab, damit es nicht zu weiteren Massakern kommen würde.
Mit den Vampiren konnte man wenigstens verhandeln und vielleicht sogar durch Vernunft gewinnen. Sie waren nicht wie die Vampirfeen, sie waren nicht darauf aus, jeden zu vernichten, der ihnen in die Quere kam. Dennoch blieb es eine Tatsache, dass sich zwei blutdürstige Raubwesen um die Stadt stritten – und beide Parteien akzeptierten nur den Sieg.
Und wir? Wir befanden uns auf einer Aufklärungsmission.
Kaylin saß auf dem Beifahrersitz. Mein Vater, Wrath – König von Schilf und Aue –, und Lannan Altos, der Vampir, den ich leidenschaftlich hasste und der ganz unerwartet zu einem Verbündeten geworden war, hatten sich auf der Rückbank ausgestreckt.
Wir waren unterwegs, um herauszufinden, was vom Haus der Schleier übrig geblieben war. Zwei Tage lang hatten wir uns versteckt gehalten und unsere nächsten taktischen Schritte geplant. Schließlich hatte ich es nicht mehr ausgehalten, mit den anderen auf so engem Raum eingepfercht zu sein, und eine Expedition vorgeschlagen. Falls wir es schafften, zur Vyne Street zu gelangen, konnten wir vielleicht in der Asche noch etwas Nützliches finden.
Ich fürchtete mich vor dem, was wir vorfinden würden, denn ich erwartete eine rußgeschwärzte Ruine, in deren Mauern sich verkohltes Inventar mit dem getauten Schnee zu schwarzem Schlamm verbunden hatte. Daher hatte ich Rhiannon auch davon abgehalten, mit uns zu kommen. Sie war im Haus der Schleier aufgewachsen und hatte dort ihre Mutter verloren. Von ihr zu verlangen, diesen Erkundungstrip mit uns zu machen, wäre grausam gewesen. Im Übrigen waren wir vier diejenigen, die am wenigsten Gefahr liefen, getötet zu werden. Ich hätte auch gerne Grieve, meinen Geliebten, bei uns gehabt, aber es war im Augenblick gefährlich für ihn, sich dem Goldenen Wald zu nähern.
Ein Blick über meine Schulter verriet mir, dass mein Vater sich nach Kräften bemühte, nicht gegen die metallene Karosserie des Wagens zu stoßen. Das darin enthaltene Eisen tat ihm weh, aber er unterdrückte den Schmerz und ließ sich nichts anmerken. Ich bewunderte seine Stärke; endlich hatte ich jemanden in der Familie, der zum Vorbild taugte – jemanden, auf den ich stolz sein konnte. Aber als ich sah, wie er in einer Kurve seinen Arm von der Tür wegriss, kam mir ein hässlicher Gedanke.
»Du denkst doch nicht, dass ich auch eine Eisenunverträglichkeit entwickeln könnte, oder? Favonis hat mich bisher nie gestört.« Ich hatte erst vor kurzem erfahren, dass ich zur Hälfte Cambyra-Fee – von den Uwilahsidhe, den Eulenwandlern – und Wrath mein Vater war. Im Allgemeinen vertrugen Feen Eisen nicht.
»Machst du dir Sorgen deswegen?« Wrath beugte sich vor. Sein Unwohlsein war ihm anzuhören. »Ist dir etwas aufgefallen?«
»Nein. Ich dachte nur … Könnte es nicht sein, dass ich immer sensibler auf bestimmte Dinge reagiere, die auch dich beeinträchtigen, je mehr sich mir von meinem Feenerbe offenbart?«
»Sieh bitte wieder auf die Straße. Ich habe keinerlei Bedürfnis, in diesem neumodischen Gerät zu sterben.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Wenn du eine Eisenintoleranz entwickeln würdest, dann wäre das längst geschehen. Du wusstest bisher nur deswegen nichts von deinen Wandlerfähigkeiten, weil ich den Anhänger mit einem Zauber belegt habe. Ich versteckte ihn, so dass du dich erst erinnern würdest, wenn du bereit dazu warst. Außerdem habe ich dich schon als Baby mit einem Bann belegt, der dafür sorgte, dass du von deinem Erbe nichts ahntest, bis du den Anhänger fandest und ich dir das Fliegen beibringen konnte.«
»Schön, denn ich liebe mein Auto.« Ich hätte zu gern das Radio
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