Tod im Ebbelwei-Express (German Edition)
Sanft hatte der Sonntag seine Schwingen ausgebreitet. Herr Schweitzer war bereits im Morgendämmer aufgestanden und hatte auf ein friedlich schlafendes Frankfurt geblickt. Nur ganz vereinzelt waren erleuchtete Rechtecke und Quadrate in den Häusern zu erkennen gewesen.
Nun war es elf Uhr und der Himmel präsentierte sich in einem aufmunternden Blau, das nach dem wechselhaften Wetter der letzten Wochen imstande war, selbst hartnäckigste Selbstmörder in ihrem Treiben kurz innehalten zu lassen.
Herr Schweitzer steuerte den über die Grenzen Frankfurts hinaus bekannten Ebbelwei-Expreß in die Dreieichstraße, das heißt, er steuerte nicht wirklich, denn Straßenbahnen hielten sich meist penibel an die vorgegebene Streckenführung, und ein geübter Fahrer brauchte sich nur darauf zu beschränken, die Geschwindigkeit zu regulieren, und dann und wann die Türen für ein- und aussteigende Fahrgäste freizugeben.
Gleich würden sie den tagsüber verwaisten Taxistand passieren. Herr Schweitzer konnte nur noch hoffen, daß die Artusrunde um René und ihn alle möglichen Imponderabilien einkalkuliert hatte, andernfalls sein Leben in Bälde keinen Pfifferling mehr wert sei. Zum x-ten Male trocknete er seine schweißnassen Hände an seiner Schaffneruniform, die, seit er sie zuletzt getragen hatte, ganz schön eingegangen war. In Echt jedoch war das Kleidungsstück nicht ein-, sondern er, Herr Schweitzer, aufgegangen. Um ca. zehn Kilo, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Das sind immerhin so um die zwanzig Pfund.
Habituell bestand der Ebbelwei-Expreß aus einem Zugwagen plus Anhänger. Daß sich im Zugwagen lediglich Herr Schweitzer befand, gehörte zum Plan. Der angehängte Wagen war um so voller. Die sieben Personen brachten es auf insgesamt über zwanzig Jahre Zuchthaus, und das, obwohl nur zwei davon die Dreißig schon überschritten hatten und sich mit Bertha vom Weinfaß eine unbescholtene, wenn auch mit großem Schlappmaul ausgestattete, autochthone Sachsenhäuser Bürgerin unter ihnen befand.
Die aufs Übelste beleumundete Gesellschaft war immer noch arglos, als Herr Schweitzer den Ebbelwei-Expreß das letzte Mal in Bewegung setzte, hinauf auf die Ignatz-Bubis-Brücke, die nach dem im Jahre 1999 verstorbenen, langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden benannt worden war. Dieser Brückenumbenennung war selbstverständlich ein peinlicher Protest von Hitler-Anhängern und ähnlichem Gesocks vorausgegangen, wie es sich für Groß-Deutschland gehört.
Noch dreißig Sekunden. Herr Schweitzer verlangsamte die Fahrt, bis man auf dem Scheitelpunkt der Brücke zum Stehen kam. Sein Herz galoppierte, als wolle es den Großen Preis von Deutschland gewinnen. Im Rückspiegel sollte jetzt eigentlich Bertha auftauchen, aber sie tat es nicht. Das war so einer jener Zeitpunkte, in denen der Mensch mutterseelenallein war. Wo blieb denn Bertha nur? Warum stieg sie denn nicht aus? Vor ihm, auf der anderen Mainseite, strahlten die Überreste der ehemaligen Stadtbibliothek im Sonnenlicht. Lieber Gott im Himmel, betete der Atheist Schweitzer, laß alles gut werden. Tagelang hatten sie auf diesen Augenblick hingearbeitet, hatten Pläne geschmiedet und wieder verworfen, hatten das Für und Wider gegeneinander abgewogen. Nur, um im letzten Augenblick kläglich zu scheitern? Auch wenn Leben Sterben bedeutete, so war es dazu doch noch zu früh, fand Herr Schweitzer und schwitzte weiter. Eine Minute. Eine geschlagene Minute, die er sein Lebtag nicht vergessen wird, sollte verstreichen, ehe die gute Bertha dem hinteren Wagen entstieg und sich auf den Weg in die Richtung machte, die sie gekommen waren.
Herr Schweitzer stieg aus. Gleich würde das Elend beginnen, da war es besser, schon mal ein paar Meter Land gewonnen zu haben. Ein ohrenbetäubender Schuß zerriß die sonntägliche Unschuld. Herrn Schweitzer sackte das Herz in die Hose. Er drehte sich um. Bertha packte ihn am Ärmel und riß ihn mit sich, bevor ein wahres Stakkato an Schüssen an ein pyrotechnisches Meisterwerk erinnerte. Er glaubte, in Berthas Gesicht so etwas wie ein spitzbübisches Lächeln zu erkennen. Niederprasselnde Glassplitter begleiteten das Schreckensszenario.
Bis zum dreiundzwanzigsten Schuß – so viele sollten später von der Spurensicherung festgestellt werden – vergingen nicht einmal fünfundzwanzig Sekunden. Dann war alles vorüber, es roch nach Pulver und Tod.
Um verstehen zu können, warum an einem lauen Frühlingsvormittag auf der
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