Winterzauber
der mein linkes Handgelenk festhielt und gerade den Ärmel meiner Jacke und des Pullovers hochschob. Was er dann tat, zog mir den Boden unter den Füßen weg, denn anstatt mir einen weiteren Vortrag zu halten oder mich anzuschreien, wie ich eigentlich erwartet hatte, küsste er meine Narbe und sah mir dabei in die Augen.
„Wieso?“, fragte ich, als ich den Schock soweit überwunden hatte, dass ich wieder sprechen konnte.
„Ich hoffe, dass du die Antwort auf diese Frage eines Tages selbst findest.“
Nach den Worten wandte Wynn sich von mir ab und stand auf, um den Schneeschieber zu nehmen und sich an die Arbeit zu machen. Und ich... Tja, ich floh. Zurück ins Haus und in mein Zimmer, in das ich mich einschloss und entschied, erst wieder rauszukommen, wenn Wynn das Haus verlassen hatte, während ich mich gleichzeitig fragte, was zum Teufel das da draußen gerade gewesen war?
4
Ich fand keine Antwort. Wie ich es in den nächsten Tagen auch drehte und wendete, ich konnte mir diesen Kuss einfach nicht erklären. Was hatte Wynn damit bezwecken wollen? Ein Faustschlag wäre verständlich gewesen, denn den hätte ich mir erklären können, aber der Kuss auf meine Narbe brachte mich völlig außer Konzept. Wynn konnte von Glück reden, dass ich viel zu verdattert gewesen war, darauf zu reagieren, sonst hätte ich ihm dafür eine reingehauen. So aber grübelte ich seit Tagen vor mich hin.
Ob er es deswegen getan hatte? Um mich zum Nachdenken zu bringen? Möglich wäre es, immerhin kannte ich ihn nicht und wusste daher auch nicht, wie Wynn tickte. Allerdings war ein Kuss eine ziemlich merkwürdige Strategie, besonders weil er nicht mich geküsst hatte, sondern meine Narbe.
Ich würde Migräne bekommen, wenn ich so weitermachte. Das brachte doch alles nichts. Wynn war weg und würde wohl nie wiederkommen. Ich sollte das Ganze beiseite schieben und als Erfahrung abhaken. Wozu diese Erfahrung auch immer gut sein sollte.
Wenigstens war ich ihm nicht mehr begegnet, das wäre mir eindeutig zuviel gewesen. Ich hatte Wynn, Janosch und Baxter am nächsten Tag zwar belauscht, bevor sie losgezogen waren, um nach Wynns Wagen zu sehen, aber ich war die ganze Zeit in meinem Zimmer geblieben. Zurückgekehrt waren Janosch und Baxter ohne Wynn und ich ärgerte mich selbst jetzt, Tage später, immer noch, weil ich deswegen im ersten Augenblick enttäuscht gewesen war.
Morgen war Weihnachten und auch wenn ich mit diesem Fest nichts mehr anzufangen wusste, wollte ich Janosch und Baxter nicht die Freude daran verderben, weil ich ständig über Wynn grübelte. Wie schon gesagt, er war weg.
Es war vorbei und damit basta.
„Du hast Post.“
Ich sah von der Szene auf, an der ich gerade arbeitete und drehte mich zu Janosch um. Was meinte er damit? Ich bekam keine Post. Mal abgesehen von ein bisschen Fanpost, die ich bei der Post lagerte und ein Mal im Monat durchsah, bevor ich sie entsorgte. Und wegen einer langweiligen Rechnung hätte Janosch mich nie beim Schreiben gestört.
„Ich bekomme keine Post.“
Janosch grinste. „Doch, tust du. Hier.“
Er reichte mir einen dicken, cremefarbenen Umschlag. Per Express versandt und persönlich mit der Hand adressiert. Mir war umgehend klar, von wem dieser Brief kam, obwohl auf der Rückseite kein Absender stand und ich Wynns Handschrift noch nie zuvor gesehen hatte. Ich wandte mich wortlos wieder meiner Szene zu, ohne den Brief zu nehmen.
Janosch seufzte hinter mir. „Logan...“
„Nein!“, wehrte ich trotzig ab und schüttelte zusätzlich den Kopf. „Wirf ihn weg oder mach' damit, was du willst. Ich will ihn nicht haben.“
Janosch verschwand nach einem weiteren Seufzen und ich stützte mich mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch ab, weil er jetzt nicht mehr sehen konnte, dass meine Hände zitterten.
Scheiße.
Was dachte sich dieser Mistkerl eigentlich? Ein Brief. Hatte ich nicht deutlich genug gesagt, dass ich...
„Fuck!“, rutschte mir heraus, als mir einfiel, dass ich Wynn mit keinem Wort gesagt hatte, dass er mich nicht kontaktieren sollte. Ich hatte ihm nur erklärt, dass ihn meine Narben nichts angingen und war geflüchtet, nachdem er mir mit diesem Kuss gekommen war.
Egal. Das änderte gar nichts. Ich würde diesen Brief weder öffnen noch lesen, sondern ihn entsorgen, wenn Janosch oder Baxter es nicht taten. Ich wollte nicht wissen, warum Wynn der Meinung war, mir zu Weihnachten einen Brief schreiben zu müssen. Ich wollte diesen Typ
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