Wir Genussarbeiter
Anders als das Tier koitiert der Homo sapiens nicht an jeder Straßenecke, anstatt auf Bäumen schläft er in von ihm gebauten Häusern, sein Essen bereitet er erst zu, bevor er es verspeist, und zur Begrüßung riecht er nicht am Anus seines Gegenübers, sondern schüttelt ihm die Hand. Ja, alles Animalische ist dem Menschen zutiefst zuwider, er verachtet jedes instinktgeleitete Handeln, in der Politik genauso wie im Alltag, und wenn unter den Achseln eines Artgenossen das Deo oder im Bad die Zitrusfrische fehlt, rümpft er die Nase. Was der Mensch schätzt, ist das Erhabene, Saubere, Rationale, ganz gemäß der Position seines Kopfes, den er nicht wie das Tier auf der Höhe seiner Geschlechtsteile trägt, sondern, dank seines aufrechten Ganges, weit, weit oben.
»Heiliger aber als sie [die Tiere] ein Wesen noch fehlte, das hohen
Sinnes fähiger sei und die übrigen könne beherrschen.
Und es wurde der Mensch. Mag sein, daß der Meister der Dinge,
Er, der Ursprung der besseren Welt, ihn aus göttlichem Samen
Schuf, mag sein, daß Erde, die jüngst erst getrennt von dem hohen
Äther, den Samen vom ursprungsverwandten Himmel behalten,
Erde, die dann des Iapetus Sohn, vermengt mit des Regens
Wassern, geformt nach dem Bild der alles lenkenden Götter.
Während die übrigen Wesen gebeugt zur Erde hin sehen,
Gab er dem Menschen ein aufrecht Gesicht und hieß ihn
den Himmel
Schauen, aufwärts den Blick empor zu den Sternen erheben.«
So heißt es in Ovids Metamorphosen . Der ›stolze‹ Mensch lässt seinen Blick in metaphysische Ferne schweifen, er ist fähig zu Lustverzicht und abstrahierendem Denken. Während das gebeugte Tier an diesem oder jenem Apfel schnuppert und schleckt, überblickt er die Gattung der Kernobstgewächse; und anstatt die Frucht sofort zu verspeisen, wenn sie ihn lockt, dreht und wendet er sie in der Hand, untersucht sie, vergleicht, systematisiert und katalogisiert die verschiedenen Arten.
Doch gerade dies, dass dem Menschen ein wie auch immer geartetes ›natürliches‹ Triebleben schon immer verwehrt ist und er sich ständig zügeln, kontrollieren und zu Kulturarbeit motivieren muss, ist der Grund dafür, dass er sich in sogenannten schwachen Momenten kopfüber, ja mitunter nachgerade halsbrecherisch ins Reich der Nahsinne stürzt. Von der angestrengt zurückgehaltenen Lust überwältigt, wühlt er sein ansonsten so erhabenes Haupt zwischen Brüste und Beine, schnuppert gierig an Geschlechtsteilen und Achselhöhlen, schleckt und tastet und koitiert und trinkt und isst ganze Nächte hindurch.
Tatsächlich ist der Genuss nur die andere Seite des ständigen Triebverzichts: Je strenger der Verzicht, desto ekstatischer das Genießen. Die Pflicht zur Entsagung, die das Genießen angeblich nur zu unterdrücken versucht, bringt es in Wahrheit selbst hervor. »Ich wüßte nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht sagte: ›Du sollst nicht begehren!‹«, so heißt es bereits in den Römerbriefen des Apostels Paulus. »Nachdem aber die Sünde durch das Gesetz einen Anlaß empfangen hatte, hat sie in mir jedwede Begierde geweckt; denn ohne Gesetz wäre die Sünde tot.« Der Mensch genießt, weil er anders als das Tier von einem ›Gesetz‹, von einem Verbot beherrscht wird, das ihm die ungezügelte Sinneslust seit jeher verwehrt und sie deshalb allererst reizvoll erscheinen lässt. Auch Adam und Eva mussten erst schamhaft ihre Geschlechtsteile voreinander verbergen, um sich als geschlechtliche Wesen wahrzunehmen und sexuell zu begehren; im schuldlosen Paradieszustand waren sie so ungeschlechtlich wie Badegäste am FKK-Strand. Ohne Gesetz gäbe es keine Sünde. Nur weil wir seit jeher von einer Grenze durchzogen sind, die das Erlaubte vom Verbotenen, das Sittsame vom Verdorbenen, das Vernünftige vom Unvernünftigen trennt, können wir genießerische Wollust empfinden: nämlich in jenem Augenblick, in dem wir die Grenze überschreiten .
»Aber im Augenblick des Überschreitens empfinden wir die Angst, ohne die es das Verbot nicht gäbe: das ist die Erfahrung der Sünde«, schreibt der französische Philosoph Georges Bataille. »Die Erfahrung führt zur vollendeten Überschreitung, zur geglückten Überschreitung, die, indem sie das Verbot aufrechterhält, es aufrechterhält, um es zu genieʃsen .« Wer genießt, macht sich schuldig, weil er ein Verbot überschreitet. Doch gerade diese Schuld erzeugt eine in höchstem Maße erregende Angst-Lust, ein ekstatisches Gefühl des Aufbegehrens
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