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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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hässlich und schlecht und schuldig. Nein, nein, nein!« Aber dann, in einem Anflug von Gier, greift ihre Hand doch danach, Sünde, Sünde, Sünde!, ruft das Gewissen, aber das macht die Lust nur umso hemmungsloser: Das Papier wird aufgerissen und die Schokolade in Windeseile, um es mit Hegel zu sagen, ›negiert‹. Auch die esssüchtige Frau stürzt sich kopfüber in ein Genießen, wenn man so will – aber in kein lustbringendes, sondern in ein hilfloses, selbstzerstörerisches, zwanghaftes Genießen, das seine Ursache im Über-Ich, dem psychischen Repräsentanten des kulturellen Gesetzes, findet. »Nichts zwingt jemanden zu genießen, außer dem Über-Ich«, schreibt der Psychoanalytiker Jacques Lacan. »Das Über-Ich, das ist der Imperativ des Genießens – Genieße!«
    Dass genau dieser Imperativ im Zentrum der heutigen Konsumkultur steht, ist natürlich bezeichnend. Genieße! ruft man uns allenthalben zu. Morgens sollen wir den duftenden Kaffee genießen, tagsüber die Arbeit und abends den Sport. Wir sollen uns lächelnd in Schaufenstern betrachten (Du darfst!) und uns selbst wichtig nehmen (Unterm Strich zähl ich!). Wir sollen uns etwas gönnen. Neue Schuhe zum Beispiel, ein neues Haus oder ein Wellness-Wochenende. Wir sollen erregt sein. Lieber geiles Bier als gepflegtes Pils trinken. Pornos gucken.
Wir sollen mit dem Finger zärtlich über virtuelle Oberflächen streichen. Wir sollen Flatrates haben. Online sein. Ununterbrochen kommunizieren. Wir sollen mit schnellen Autos durch staubige Kurven fahren. Wir sollen Schnäppchen jagen. All-inclusive-Angebote nutzen. Zum Shoppen nach London jetten. Wir sollen die Vorteile eines Darlehens genießen. Wir sollen in Aktien investieren und auf den Bankrott eines Staates wetten. Wir sollen Schmerz vermeiden und Lust maximieren. Der Mensch im Kapitalismus genießt bis zur absoluten Erschöpfung. Der Lust am ›Weniger‹ frönt er genauso wie der Lust am ›Mehr‹, Diätvorschläge fordern zum kollektiven Hungern, All-you-can-eat-Angebote zum kollektiven Überfressen auf, und während die einen für einen billigen Flachbildschirm sogar nachts die Discounter stürmen, erfüllt es die anderen, 42 Kilometer lang über Großstadtasphalt zu hetzen.
    Diese Exzessivität des Genießens ist kein Zeichen von zunehmender Freiheit, sondern vielmehr das Symptom eines extremen Triebverzichts: Genuss, so haben wir oben gesehen, kann es schließlich nur geben vor dem Hintergrund von Entsagung, und je größer diese ist, desto zwanghafter das Genießen. Die Schizophrenie der heutigen Gesellschaft ist somit offensichtlich: Das uns von überall her der Imperativ Genieʃse! entgegenhallt – und wir ihm gehorchen –, zeigt, wie verklemmt, wie prüde, wie asketisch diese Kultur im Kern ist.
    Eindrücklich offenbart sich die gegenwärtige Lustfeindlichkeit auch in einer derzeit höchst beliebten Form des Genießens, das die Grenze brav akzeptiert, anstatt sie zu überschreiten. »In der Kultur westlicher Gesellschaften hat etwa Mitte der neunziger Jahre etwas stattgefunden, das man – mit einem Wort von Karl Marx – als einen Wechsel der Beleuchtung beschreiben möchte«, so der österreichische Philosoph Robert Pfaller. »Objekte und Praktiken wie Alkoholtrinken, Rauchen,
Fleisch essen, schwarzer Humor, Sexualität, die bis dahin glamourös, elegant und großartig lustvoll erschienen, werden seither plötzlich als ekelig, gefährlich oder politisch fragwürdig wahrgenommen.« Aus der ekstatischen Wollust scheint in der Tat immer mehr eine gesellschaftskonforme ›Wohllust‹ zu werden: Die heutige Genusskultur ist eine Wellness-Kultur, in welcher der Geschlechtsakt höchstens noch der Entspannung dient, das Rauchen verboten und das Maßhalten unentwegt angeraten wird. Der Wellness-Genuss ist kein transgressiver, überschreitender Genuss, sondern ein zutiefst affirmativer: Genossen – sofern von Genuss überhaupt noch die Rede sein kann – wird das Gesunde, Reine, Biologische, Gute, Ungefährliche, das dem Leistungsimperativ keineswegs zuwiderläuft, sondern ihm zuarbeitet.
    Besuchen wir, um der Logik des vernünftigen Genießens auf den Grund zu gehen, den berühmten Seefahrer Odysseus auf seinem schwankenden Kahn – jenen rationalen Genießer, der sich lieber fesseln lässt, anstatt der süßen Verlockung nachzugeben. Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?

Odysseus in der Sauna
Wie aus der Wollust die Wohllust wurde
    Ein Mann auf hoher See, aufrecht steht er am Mast,

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