Wir Genussarbeiter
gegen
eine Untersagung, die gleichwohl wirkmächtig bleibt – denn sie ist es ja, die das Genießen überhaupt erst ermöglicht und deshalb, wie Bataille sagt, ›aufrechterhalten‹ werden muss. »Ah!«, lässt der Romancier und Pornograph Marquis de Sade, der Meister der Überschreitung, einen seiner lüsternen Libertins stöhnen, »wenn ihr nur wüßtet, was es heißt, zu Füßen einer Madonna zu vögeln … im Innern eines Beichtstuhls oder auf dem Rande eines Altars, wie es mir Tag für Tag vergönnt war! Nein, nichts auf Erden ist so köstlich, wie das Vorhandensein dieser Zügel, deren einziger Dreh und Sinn darin geht, uns die Lust an der Übertretung zu verschaffen.« Und an anderer Stelle heißt es: »Wenn diese törichten Gesetzgeber doch nur wüßten, wie beflissen sie unsere Gefühle befördern, indem sie sich das Recht anmaßen, dem Menschen Satzungen aufzuerlegen: sich keinen Deut um Gesetze zu scheren, sie samt und sonders zu brechen, mein Freund, dies ist die wahre Kunst, Wollust zu empfinden. Erlerne diese Kunst und zerreiße alle Zügel.«
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Lust des Menschen sich vom animalischen Instinkt fundamental unterscheidet: Wo Tiere lediglich eine Naturnotwendigkeit verspüren, reizt den Menschen die Überschreitung einer kulturellen Grenze. Der menschliche Trieb ist nicht einfach natürlich, sondern er empfängt seine Intensität vom Verbot, das er genießend bricht und damit gleichzeitig bestätigt. Dieses Verbot, dieser Zwang zum Triebverzicht ist verantwortlich dafür, dass uns unsere Lüste entgleiten, dass wir exzessiv sind, obwohl wir doch eigentlich maßhalten wollen; und je strenger wir uns beschränken, desto größer wird sogar die Gefahr des Exzesses.
Heute, zweihundert Jahre nach der Aufklärung und vierzig Jahre nach der sexuellen Revolution, haben sich die kulturellen Verbote natürlich tiefgreifend verändert – verschwunden
aber sind sie keineswegs. Der moderne, aufgeklärte Mensch muss nicht mehr aus Glaubensgründen fasten, freitags auf Fleisch verzichten und mit dem Sex bis zur Ehe warten; dennoch sind wir in unserer heutigen Hochleistungsgesellschaft ganz offensichtlich weit davon entfernt, wieder schuldlos wie die Tiere zu werden und uns ohne Gewissensbisse dem Nichtstun hinzugeben. Unsere Gesellschaft, in der mehr denn je Schlankheit, Sportlichkeit, Gesundheit, Produktivität und Effektivität gefragt sind, verlangt uns ganz im Gegenteil ein immer höheres Maß an Triebverzicht ab. Dieser Triebverzicht ist nicht mehr an die göttliche Untersagung gebunden, sondern an strengste individuelle Selbstkontrolle, die durch die Angebote der heutigen Überflussgesellschaft zusätzlich herausgefordert – beziehungsweise konterkariert – wird. Inmitten von All-you-can-eat-Angeboten, Shopping per Mausklick und frei verfügbarer Internetpornographie muss der Mensch seine Lüste umso strenger zügeln; und umso gefährdeter ist er gleichzeitig, in die Sucht abzugleiten. Denn wie soll er damit umgehen, dass ein und dieselbe Gesellschaft ihm den Genuss verbietet und aufdrängt? »Sucht steht für die Unmöglichkeit einer vollständigen Selbstkontrolle«, schreibt der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seinem Buch Das erschöpfte Selbst . Der Süchtige »steht in einem ›unmöglichen‹ Verhältnis zum Gesetz. Die Freiheit der Sitten, also das Verschwinden der Polarität erlaubt – verboten … bewirk[t], dass alles konkret möglich wird.« Unsere Konsumleistungsgesellschaft fördert zwanghaftes Genießen, weil sie einerseits auf strengstem Verzicht beruht, andererseits aber durch ihre ständigen Reize die Lust an der Überschreitung provoziert. Was sie verbietet, preist sie gleichzeitig an.
Diese prekäre Dialektik von ständiger Verlockung und notwendiger Selbstkontrolle, von Freiheit und Zwang, von
Lust und Untersagung führt dazu, dass jenes Genießen, das Sade und Bataille in ihren Werken beschreiben, heute immer häufiger in quälender Zwanghaftigkeit stattfindet. Das Verbot, das aufrechterhalten wird, ›um es zu genießen‹, wie Bataille schrieb, ist kein Quell der Lust, sondern ein Quell der Unlust, weil seine von ihm selbst erzwungene Überschreitung einzig und allein tiefe Scham mit sich bringt. »Nein, nein, nein, nein, nein, ich darf die Schokolade nicht essen!«, sagt die essgestörte Frau still zu sich selbst, vor ihr auf dem Tisch eine 400-Gramm-Tafel Vollmilchschokolade. »Hinterher werde ich mich dick fühlen und
Weitere Kostenlose Bücher