Wir Genussarbeiter
Genussarbeit
Das Genießen der Mühsal, die Mühsal des Genießens
Arbeit ist für uns heute nicht mehr nur Mühsal. Wir, die wir unsere Arbeit gern tun und uns in ihr verausgaben auch über das erforderliche Maß hinaus, sind keine Pflichtarbeiter im herkömmlichen Sinne mehr, sondern Genussarbeiter. Diese Wortschöpfung bringt eine Entwicklung auf den Punkt, die sich verstärkt seit einigen Jahrzehnten, im Grunde aber schon seit zwei Jahrhunderten, nämlich seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters vollzieht. Seitdem der Mensch körperlich ruinöse Arbeit von Maschinen erledigen lässt, Zugang zu Bildung hat, seine Tätigkeit neigungsorientiert wählen kann und sich vornehmlich durch Leistung definiert, birgt die Arbeit ein Glücksversprechen, das andere Quellen der Lust in immer stärkerem Maße verdrängt. Sex? – Keinen Kopf dafür. – Ausruhen? Mal nichts vorhaben? – Tödlich. – Feiern, hin und wieder über die Stränge schlagen? – Kindisch.
Für uns Genussarbeiter ist der Genuss Arbeit und die Arbeit umgekehrt Genuss. In unserer Arbeit gehen wir auf wie eine Knospe im Frühling. Jede neue Herausforderung lässt uns wachsen, überborden vor Energie, so wie ein Blümlein sich begierig zur Sonne reckt, damit es gedeiht, verlangen wir unentwegt nach neuen Möglichkeiten, um das eigene Können unter Beweis zu stellen. Als Genussarbeiter und Genussarbeiterinnen lieben wir unsere Arbeit, wir brauchen die Anerkennung, die
wir durch sie erfahren oder doch zumindest zu erfahren hoffen , denn das Gefühl, tatsächlich ausreichend Anerkennung zu erfahren, stellt sich fast nie und wenn, dann nur flüchtig ein. Und so arbeiten und arbeiten wir, sind ehrgeizig und hochmotiviert, und verlieren dabei nicht selten jedes Maß.
Der Überschwänglichkeit in der Arbeit entspricht die Enthaltsamkeit im Genuss. Dort Distanzlosigkeit, hier vorsichtige Distanznahme; dort Gier, hier Abstinenz. Unsere sexuelle Energie sublimieren wir größtenteils oder sogar ganz in Arbeit. Mit größter Leidenschaft widmen wir uns unseren Projekten, geben uns unserer Arbeit hin wie einer großen, neuen Liebe, für die wir alles zu tun bereit sind.
Sublimation meint Verwandlung, Veredelung des Triebs. Doch häufig hat unser Tätigsein selbst triebhaften Charakter: dann ist es nicht ekstatisch, sondern exzessiv. Zwanghaft lebt der Workaholic seine Lust in der Arbeit aus, er muss arbeiten und kann überhaupt nicht mehr aufhören, denn wenn seine Dauererregung einmal nachlässt, überkommt ihn unweigerlich eine diffuse Angst. Jegliche Form der Muße ist für den exzessiven Genussarbeiter Mühsal. Während am Schreibtisch jedes Gefühl für die Zeit verloren geht und Überstunden kaum als solche empfunden werden, tickt die Uhr, sobald es still wird und nichts mehr zu tun ist, unüberhörbar laut. Unverplante Zeit, gar Langeweile ist für ihn kaum auszuhalten, er muss sich regelrecht anstrengen , um nicht sofort in zwangsneurotische Betriebsamkeit zu verfallen (E-Mails beantworten, Joggen und Aufräumen etwa sind beliebte Ersatzhandlungen), als würde ihn, wenn er auch nur einmal lockerließe, sofort der Teufel holen. Ein solcher Aktionismus, den wir in unserer Leistungsgesellschaft nur allzu leicht mit Leidenschaft und Vitalität verwechseln, ist in Wahrheit häufig nichts anderes als ein verzweifelter Kampf gegen die Depression. Selbst nachts
kann der Genussarbeiter nicht mehr abschalten, muss unentwegt Gedanken wälzen, bis irgendwann, wenn die Kraft nicht mehr ausreicht, sich vollkommene Apathie einstellt.
Menschen bilden Süchte aus, um sich zu betäuben, um einen Schmerz, der tief in ihrem Inneren nagt, nicht spüren zu müssen. Die Arbeitssucht ist neben der Sportsucht die einzige gesellschaftlich anerkannte, ja sogar geforderte und geförderte Sucht. Drogenabhängige, Alkoholiker, Kettenraucher, sie alle gelten als randständig, bemitleidenswert, suizidal; Arbeitssüchtige hingegen lenken Firmen und Staatsgeschicke, werden bedient, bewundert, idealisiert.
In seiner Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus legt der Soziologe Max Weber die tiefe Genussfeindlichkeit der erstarkenden Wachstumsgesellschaft eindrücklich dar. Askese und Fleiß im Dienste Gottes respektive der Akkumulation: Das war das protestantisch geprägte Arbeitsethos des frühen Industriekapitalismus. Lebendig ist dieses Ethos nach wie vor, allerdings mit bedeutsamen Verschiebungen. Erstens: An die Stelle gottgefälliger Strebsamkeit ist heute
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