Wir Kinder der Kriegskinder
Sicherheit, emotionale Präsenz und Zugewandtheit zu schenken, die sie als kleine Kinder gebraucht hätten.
Ich glaube, dass diese schwierigen Startbedingungen für meine Eltern noch heute Folgen haben: So zumindest erkläre ich mir viele ihrer für mich nicht nachvollziehbaren Verhaltensweisen und Ängste. „Kriege versprühen ihr Gift weit über den Lebenszyklus direkt Betroffener in die Seele sehr viel später Geborener. Und manchmal erzeugen sie sogar generationsübergreifende Traumatisierungen“, erklärt auch der Psychiater Peter Heinl, der seit Jahren über die Spätwirkungen von Kriegserfahrungen auf die Generation der Kriegskinder, also die zwischen 1930 und 1945 Geborenen, forscht (Heinl: Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg).
Ich glaube, dass das Gift des Krieges bisweilen noch in den Seelen der Kinder der Kriegskinder zu finden ist, den ungefähr zwischen 1955 und 1975 Geborenen. Längst nicht alle sind von generationsübergreifenden Traumatisierungen betroffen. Auch werden viele ihre Probleme überhaupt nicht in einen Zusammenhang mit den Kriegserfahrungen der Großeltern und Eltern bringen. Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen.
Seelische Folgen der Kriegskindheit
Nicht alle Kriegskinder hatten an den Folgen des Krieges zu tragen. Gerade in ländlichen Gegenden Deutschlands gab es Kinder, die ein stabiles Umfeld und ihnen zugewandte Bezugspersonen hatten und somit nicht allzu große Entbehrungen hinnehmen mussten. Sie konnten seelisch unbeschadet groß werden. Auf eine große Zahl der zwischen 1930 und 1945 Geborenen trifft das jedoch nicht zu. Laut psychologischer Studien sind 30 Prozent aller im Zweiten Weltkrieg geborenen Deutschen traumatisiert – durch Heimatverlust, Trennungen, Bombardierung, Hungersnot, Flucht und den Tod nahestehender Angehöriger. In den letzten Kriegsjahren waren existenzielle Verluste für die kriegstreibenden Deutschen an der Tagesordnung. Im Jahr 1945 war jeder Zweite auf der Flucht, mehr als zwei Millionen deutsche Zivilisten starben infolgedessen, über die Hälfte Frauen und Kinder. 5,5 Millionen Kinder hatten ihre Heimat verloren; eine weitere halbe Million Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Ältere, starben durch den Bombenkrieg. Jeder achte männliche Deutsche kam im Krieg ums Leben. Es gab in dieser Zeit kaum jemanden, der im näheren Umfeld nicht mehrere Personen zu betrauern hatte: Männer, Söhne, Kinder, Familie, Freunde. Es gab 1,7 Millionen Witwen und 2,5 Millionen Halbwaisen. Auch die Kinder, deren Väter noch lebten, sahen diese oft jahrelang nicht: Im Frühjahr 1947 waren noch 2,3 Millionen Kriegsgefangene in Alliiertenlagern und 900.000 Kriegsgefangene in sowjetischen Lagern. Ein Viertel aller Kinder wuchs dauerhaft ohne Vater auf. Tod, Hungersnot, Armut, Depression und ein großes Wertevakuum prägten diese Zeit.
Für viele Kriegskinder haben diese traumatischen Erfahrungen zahlreiche Spätfolgen: Depressionen, Ängste, Schlaflosigkeit, psychosomatische Beschwerden, Flashbacks. Elmar Brähler,Professor für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie an der Uni Leipzig, untersuchte in einer Studie die Langzeitfolgen von Ausbombung und Vertreibung für die zwischen 1930 und 1945 Geborenen und stellte fest, dass überdurchschnittlich viele Menschen dieser Geburtsjahrgänge später von einer geringen Lebenszufriedenheit berichteten und unter ausgeprägten Ängsten, Bindungsschwierigkeiten und Depressionen litten. Er fand auch heraus, dass körperliche Erkrankungen wie Herz- und Kreislaufbeschwerden oft in Zusammenhang mit den Kindheitserlebnissen standen. Der Psychologe warnt vor einer Unterschätzung der Langzeitfolgen der Kriegserlebnisse: „Die traumatischen Folgen sind weder für das Umfeld noch für die Betroffenen selbst leicht zu benennen: Trotzdem belasten sie aber oft das ganze Leben.“
Doch nicht alle Kriegskinder haben schreckliche Erinnerungen – manche Kriegskinder denken auch positiv an diese Zeit zurück, an aufregende Spiele inmitten rauchender Ruinen oder den Nervenkitzel bei der Suche nach Bombensplittern. Möglicherweise dienen diese Erinnerungen dazu, die angstvollen inneren Bilder auf Abstand zu halten. Auf jeden Fall dürften sie eine reflektierte Auseinandersetzung erschweren.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Langzeitstudie der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung unter 400 Patienten, die zwischen 1990 und 1993 eine Psychoanalyse beendeten. Bei 54 Prozent der Probanden hatte der Krieg Spuren
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