Wir Kinder der Kriegskinder
hinterlassen: körperliche Langzeitschäden durch Mangelernährung, Probleme mit der Selbstfürsorge, psychosomatische Beschwerden, Einsamkeit, Flucht in Leistung, Empathiestörungen, Identitäts- und Beziehungsstörungen. Belastend sei dabei nicht nur die Kriegszeit, sondern ebenso die Nachkriegszeit gewesen, stellten die Psychoanalytiker fest. Viele Kinder hätten für ihre durch Ausbombung, den Verlust des Ehemannes oder Vergewaltigung emotional erstarrten Mütter gesorgt und es angesichts dessen selbst nicht geschafft, eigene Entwicklungsaufgaben wahrzunehmen. Kehrte derabwesende, häufig idealisierte Vater zerrüttet aus der Gefangenschaft zurück, war auch er meist nicht in der Lage, Vaterfunktionen wahrzunehmen. „Durch die starke Bindung an die hilfsbedürftigen Eltern konnten die Kriegskinder ihre affektiven Fähigkeiten nicht gut ausbilden“, erklärt die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber. Die kognitiven Fähigkeiten dagegen seien bei dieser Generation meist sehr gut ausgeprägt. Das lässt sich nicht bestreiten: Viele sitzen heute an Schaltstellen in Politik und Wirtschaft.
Fälschlicherweise glauben viele Menschen, dass nur die Kriegskinder, die alt genug waren, um sich an konkrete belastende Ereignisse zu erinnern, heute noch mit den Folgen des Erlebten zu kämpfen haben. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die Jahrgänge 1942 bis 1945, die kaum oder keine Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre im Krieg oder die Zeit unmittelbar danach haben, leiden besonders an den Spätfolgen ihrer frühen Erfahrungen – oft, ohne es zu wissen. Das beobachtete auch die Journalistin Sabine Bode, die in ihrem Buch Die vergessene Generation – die Kriegskinder brechen ihr Schweigen ein Porträt der Kriegskindergeneration lieferte. In einem Interview mit dem NDR Anfang 2007 berichtete sie: „Die älteren Kriegskinder, die ihren Eltern während der Kriegs- und Nachkriegszeit unterstützend zur Seite stehen konnten, haben diese Zeit häufig relativ gut überstanden, ohne Traumatisierung. Oft waren sie später sogar sehr erfolgreich, viele von ihnen gingen in helfende Berufe. Aber die kleineren Kinder, die in den letzten Jahren des Krieges geboren wurden, die haben die Katastrophen umso schlimmer erlebt. Je kleiner sie waren, umso schwerer hatten sie’s. Obwohl es zu dieser Zeit überhaupt nicht die Empfindung gab, dass die Kleinen viel gelitten hätten.“
Diese Tatsache lässt sich wohl so erklären: Gerade pränatale Erlebnisse und frühe Erfahrungen in den ersten drei Lebensjahren wirken sich maßgeblich auf unsere seelische und körperlicheGesundheit und emotionale Entwicklung aus. Babys lernen von ihren Bezugspersonen, ihren eigenen inneren Zustand zu deuten: So gut oder schlecht wie die Bindungsperson – meist die Mutter – die eigenen Gefühle regulieren kann, gelingt dies auch dem Baby. Es ist auf einen schützenden Erwachsenen angewiesen, der ihm hilft, das Erlebte einzuordnen und zu bewältigen. „Babys erleben alles erst mal als Stress, ob das Hunger ist, Durst oder ein neues Geräusch“, erklärt mir der Münchner Psychiater und Bindungsforscher Karl Heinz Brisch in einem Interview. „Dann greift die Mutter ein und beruhigt das Baby. So hilft sie ihm, Stück für Stück die eigenen Impulse kennenzulernen und einzuordnen.“ Später kleidet die Mutter (oder der Vater) die Gefühle ihres Kindes in Worte und bringt ihm so bei, dass es Namen für unterschiedliche Emotionen wie Freude, Wut oder Angst gibt. Die Fähigkeit, Gefühlszustände anderer erkennen, Empathie empfinden und eigene Gefühlszustände regulieren zu können, stammt aus dieser Zeit – all diese Erfahrungen werden in der sich rasant entwickelnden rechten Gehirnhälfte des Babys abgespeichert.
Wir können nicht davon ausgehen, dass die in den letzten Kriegsjahren geborenen Kinder entsprechende Bedingungen für ihre Entwicklung vorfanden. In den letzten Kriegsjahren und der frühen Nachkriegszeit war es Müttern oftmals kaum möglich, ihrem Kind Schutz vor den vielen äußeren Stressfaktoren zu bieten. Auch seelisch waren sie mit Sicherheit nicht in der Lage, angemessen auf ihr Baby zu reagieren: Das Trauma von Flucht und Vertreibung, Bombennächten in Luftschutzkellern, Trauer um getötete Angehörige und Freunde, Hungersnot, die nackte Angst ums Überleben – möglicherweise einhergehend mit der Angst vor Vergewaltigung – standen häufig im Vordergrund. Die neuropsychologische Forschung weiß heute, dass viele
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