Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
vielleicht Gutsverwalter geworden und hätte seine eigene Doggenzucht gehabt. Er lernte gerade Gutsverwalter, als er meine Mutter traf. Sie wurde schwanger mit mir, er brach seine Lehre ab und heiratete sie. Irgendwann muss er dann auf die Idee gekommen sein, dass meine Mutter und ich schuld an seinem Elend seien. Von all seinen Träumen war ihm nur sein Porsche geblieben und ein paar aufschneiderische Freunde.
Er hasste die Familie nicht nur, er lehnte sie einfach total ab. Das ging so weit, dass keiner seiner Freunde wissen durfte, dass er verheiratet war und Kinder hatte. Wenn wir Freunde von ihm trafen oder wenn ihn Bekannte zu Hause abholten, musste ich ihn immer mit »Onkel Richard« anreden. Ich war mit Schlägen so darauf programmiert, dass ich da niemals einen Fehler machte. Sobald andere Leute da waren, war er für mich der Onkel.
Mit meiner Mutter war das nicht anders. Sie durfte vor seinen Freunden nie sagen, dass sie seine Frau war, und vor allem sich nicht so verhalten wie seine Frau. Ich glaube, er gab sie immer als seine Schwester aus.
Die Freunde meines Vaters waren jünger als er. Sie hatten das Leben noch vor sich, jedenfalls meinten sie das sicher. Mein Vater wollte einer von ihnen sein. Einer, für den alles erst anfing. Und keiner, der sich schon eine Familie aufgehalst hatte, die er nicht mal ernähren konnte. So etwa war das mit meinem Vater.
Ich hatte im Alter von sechs bis acht natürlich überhaupt keinen Durchblick. Mein Vater bestätigte mir nur die Lebensregel, die ich schon auf der Straße und in der Schule lernte: schlagen oder geschlagen werden. Meine Mutter, die in ihrem Leben genug Prügel bekommen hatte, war zu derselben Erkenntnis gekommen. Immer wieder bläute sie mir ein: »Fang niemals an. Aber wenn dir jemand was tut, hau zurück. So doll und so lange du kannst.« Sie selber konnte ja nicht mehr zurückschlagen.
Ich lernte das Spiel langsam: selber Macht über andere oder unterdrückt werden. In der Schule fing ich bei dem schwächsten Lehrer an. Ich rief ständig etwas in den Unterricht. Die anderen lachten jetzt über mich. Als ich das auch bei den strengeren Lehrern machte, da fand ich endlich echte Anerkennung bei meinen Mitschülern.
Ich hatte gelernt, wie man sich in Berlin durchsetzte: immer eine große Schnauze haben. Am besten die größte von allen. Dann kannst du Boss spielen. Nachdem ich mit meiner Klappe so erfolgreich war, wagte ich auch, meine Muskeln auszuprobieren. Eigentlich war ich nicht sehr stark. Aber ich konnte wütend werden. Und dann habe ich auch die Stärkeren umgehauen. Ich habe mich nachher beinahe gefreut, wenn mir in der Schule einer blöd kam und ich ihn dann vor der Schule wiedertraf. Ich musste meistens gar nicht handgreiflich werden. Die Kinder hatten einfach Respekt vor mir.
Ich war mittlerweile acht. Mein sehnlichster Wunsch war, schnell älter zu werden, erwachsen zu sein wie mein Vater, wirkliche Macht zu haben über andere Menschen. Was ich an Macht hatte, probierte ich inzwischen aus.
Mein Vater hatte irgendwann Arbeit gefunden. Keine, die ihn glücklich machte, aber eine, mit der er Geld für seine Sausen und seinen Porsche verdiente. Ich war deshalb nachmittags allein mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester zu Haus. Ich hatte eine zwei Jahre ältere Freundin gefunden. Ich war stolz, eine ältere Freundin zu haben. Mit ihr war ich noch stärker.
Mit meiner kleinen Schwester spielten wir fast jeden Tag das Spiel, das wir gelernt hatten. Wenn wir aus der Schule kamen, suchten wir Zigarettenkippen aus Aschenbechern und Mülleimern. Wir strichen sie glatt, klemmten sie zwischen die Lippen und pafften. Wenn meine Schwester auch eine Kippe haben wollte, bekam sie was auf die Finger. Wir befahlen ihr, die Hausarbeit zu machen, also abwaschen, Staub wischen und was uns die Eltern noch so aufgetragen hatten. Dann nahmen wir unsere Puppenwagen, schlossen die Wohnungstür hinter uns ab und gingen spazieren. Wir schlossen meine Schwester so lange ein, bis sie die Arbeit gemacht hatte.
In dieser Zeit, als ich so acht, neun war, machte in Rudow ein Ponyhof auf. Wir waren zuerst sehr sauer, denn für den Ponyhof wurde so ziemlich das letzte Stück freie Natur, in das wir mit unseren Hunden flüchten konnten, eingezäunt und abgeholzt. Dann verstand ich mich mit den Leuten da aber ganz gut und machte Stallarbeiten und Pferdepflege. Für die Arbeit durfte ich ein paar Viertelstunden in der Woche frei reiten. Das fand ich natürlich
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