Wir lassen sie verhungern
Monaten und zehn Jahren. Die meisten sind zu Skeletten abgemagert. Unter der Haut zeichnen sich die Knochen ab, und bei einigen sieht man das rötlich-bräunliche Haar und den aufgeblähten Bauch des Kwashiorkor – neben Noma eine der schlimmsten durch Unterernährung hervorgerufenen Krankheiten.
Einige haben die Kraft zu lächeln. Andere liegen zusammengekrümmt und stoßen ein leises, kaum hörbares Röcheln aus.
Über jedem hängt ein Plastikbeutel mit der Infusionslösung, die tropfenweise über einen dünnen Schlauch zur Kanüle in dem kleinen Arm gelangt.
Auf den Matten der drei Baracken sind rund sechzig Kinder in Dauerbehandlung.
»Sie werden fast alle gesund«, informiert mich voller Stolz eine junge Schwester aus Sri Lanka, die die Kinder auf der in der Mitte der Hauptbaracke hängenden Waage täglich wiegt.
Sie bemerkt meinen ungläubigen Blick.
Auf der anderen Seite des Hofs, am Fuß der kleinen weißen Kapelle, sind zahlreiche Gräber zu sehen.
Trotzdem beharrt sie: »In diesem Monat haben wir nur zwölf verloren, im letzten Monat acht.«
Als ich später im Süden durch Maradi komme, wo die Ärzte ohne Grenzen (MSF) gegen die Geißel der schweren Unter- und Mangelernährung im Kindesalter kämpfen, erfahre ich, dass die Sterblichkeitsziffer bei den Schwestern von Saga im Vergleich zum Landesdurchschnitt tatsächlich sehr niedrig ist.
Die Ordensschwestern arbeiten Tag und Nacht. Es ist deutlich zu erkennen, dass sich einige am Rande vollkommener Erschöpfung befinden.
Sie kennen keine Hierarchie. Jede geht ihrer Aufgabe nach. Keine übt irgendeine Befehlsgewalt aus. Es gibt weder Äbtissin noch Priorin.
Drückende Schwüle herrscht in der Baracke. Das Stromaggregat und die wenigen Ventilatoren, die es betreibt, sind ausgefallen.
Ich gehe in den Hof hinaus. Die Luft flirrt vor Hitze.
Aus der Küche unter freiem Himmel weht der Geruch des Hirsebreis herüber, den eine junge Schwester für das Mittagessen bereitet. Die Mütter der Kinder und die Schwestern sitzen auf den Matten der Mittelbaracke und essen gemeinsam.
Mich blendet das weiße Licht des Sahelmittags.
Unter dem Affenbrotbaum steht eine Bank. Erschöpft sitzt dort die deutsche Schwester, die ich am Morgen gesehen habe. Sie spricht in ihrer Muttersprache mit mir. Die anderen Schwestern sollen sie nicht verstehen. Sie befürchtet, sie zu entmutigen.
»Haben Sie gesehen?« fragt sie mich mit müder Stimme
»Habe ich.«
Sie schweigt, die Arme um ihre Knie geschlungen. Ich frage:
»Ich habe in jeder Baracke leere Matten gesehen … warum haben Sie heute Morgen nicht mehr Mütter und Kinder hereingelassen?«
»Die Infusionsbeutel sind teuer«, sagt sie. »Niamey ist weit. Und dann die schlechten Straßen. Die Lastwagenfahrer verlangen horrende Transportgebühren … Unsere Mittel sind begrenzt.«
Der jährliche Hungertod von mehreren zehn Millionen Männern, Frauen und Kindern ist der Skandal unseres Jahrhunderts.
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Und das auf einem Planeten, der grenzenlosen Überfluss produziert …
In ihrem augenblicklichen Zustand könnte die Weltlandwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren, was gegenwärtig fast der doppelten Weltbevölkerung entspräche.
Insofern ist die Situation alles andere als unabwendbar.
Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.
Dieser Massenvernichtung begegnet die öffentliche Meinung des Westens mit eisiger Gleichgültigkeit. Allenfalls reagiert sie mit zerstreuter Aufmerksamkeit, wenn die Katastrophen besonders »sichtbar« werden – wie die Hungersnot, die seit dem Sommer 2011 für mehr als zwölf Millionen Menschen in fünf Ländern am Horn von Afrika eine tödliche Bedrohung darstellt.
Gestützt auf zahlreiche Statistiken, Diagramme, Berichte, Resolutionen und andere sorgfältige Studien der Vereinten Nationen, der UN-Sonderorganisationen, anderer Forschungsinstitute, aber auch etlicher Nichtregierungsorganisationen (NGOs), widme ich mich im ersten Teil des Buchs der Aufgabe, die Katastrophe zu beschreiben, das Ausmaß der Massenvernichtung zu bestimmen.
Fast ein Drittel der 56 Millionen zivilen und militärischen Toten während des Zweiten Weltkriegs gehen auf das Konto des Hungers und seiner unmittelbaren Folgen.
1942/43 ist fast die Hälfte der weißrussischen Bevölkerung an der von den Nazis organisierten Hungersnot zugrunde gegangen. 3 In ganz Europa starben Millionen Kinder, Männer und Frauen an Unterernährung,
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