Wir lassen sie verhungern
einen zuverlässigen statistischen Apparat. Doch gerade in diesen Ländern füllen sich die Massengräber am schnellsten mit den Opfern des Hungers.
Trotz dieser – mir durchaus einleuchtenden – Kritik am mathematischen Modell der FAO-Statistiker meine ich, dass wir dank seiner beobachten können, wie sich auf unserem Planeten die Zahlen der unterernährten Menschen und der Hungertoten über einen langen Zeitraum entwickeln.
Jean-Paul Sartre schreibt: »Den Feind erkennen, den Feind bekämpfen.« Selbst wenn die ermittelten Zahlen zu niedrig sein sollten, wird die Methode doch Sartres Forderung gerecht.
Gegenwärtig ist es das Ziel der UNO, die Zahl der Hungernden bis 2015 um die Hälfte zu verringern.
Als die UN-Generalversammlung in New York diese Entscheidung im Jahr 2000 feierlich traf – es handelte sich um das erste der acht Millennium-Enwicklungsziele (MDGs) 17 –, hat sie 1990 als Bezugsjahr gewählt. Also geht es darum, die Zahl der Hungernden aus dem Jahr 1990 um die Hälfte zu reduzieren.
Dieses Ziel wird natürlich nicht erreicht. Denn statt sich zu verringern, wächst die Pyramide der Leidenden. Das räumt auch die FAO ein:
»Nach der neuesten Statistik sind gewisse Fortschritte bei der Verwirklichung der MDGs erzielt worden. Angesichts des fortgesetzten (wenn auch im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten verlangsamten) Bevölkerungswachstums kann sich hinter dem prozentualen Rückgang der Hungernden aber auch ein Anstieg ihrer absoluten Zahl verbergen. Tatsächlich hat sich die Zahl der Hungernden in den Entwicklungsländern insgesamt erhöht (von 827 Millionen im Zeitraum 1990–92 auf 906 Millionen im Jahr 2010).« 18
Um die Geografie des Hungers, die Verteilung dieser Massenvernichtung auf unserem Planeten, besser erfassen zu können, müssen wir eine erste Unterscheidung vornehmen, an der sich auch die UNO und ihre Sonderorgane orientieren: zwischen dem »strukturellen Hunger« einerseits und dem »konjunkturellen Hunger« andererseits.
Der strukturelle Hunger resultiert aus den unzulänglich entwickelten Produktionsstrukturen der Länder des Südens. Er ist permanent, erregt wenig Aufsehen und reproduziert sich biologisch: Jedes Jahr bringen Millionen unterernährte Mütter körperlich und geistig behinderte Kinder zur Welt. Struktureller Hunger bedeutet psychische und physische Zerstörung, Verlust der Würde, endloses Leid.
Der konjunkturelle Hunger dagegen springt ins Auge. Regelmäßig erscheint er auf unseren Fernsehschirmen. Er bricht plötzlich aus, wenn sich eine Naturkatastrophe ereignet, das heißt, wenn eine Region von Heuschrecken, Trockenheit, Überschwemmungen verwüstet wird oder wenn ein Krieg das soziale Gefüge zerreißt, die Wirtschaft ruiniert und Hunderttausende von Opfern in Vertriebenenlager im Land oder in Flüchtlingslager jenseits der Grenzen treibt.
In all diesen Situationen kann weder ausgesät noch geerntet werden. Die Märkte sind zerstört, die Straßen blockiert, die Brücken eingestürzt. Die staatlichen Institutionen funktionieren nicht mehr. Dann ist für Millionen von Opfern das Welternährungsprogramm (WFP) die letzte Chance.
Nyala, in der Region Darfur gelegen, ist das größte der siebzehn Vertriebenenlager in den drei Provinzen des Westsudans, die seit 2008 von Krieg und Hunger heimgesucht werden.
Von afrikanischen – vor allem ruandischen und nigerianischen – Blauhelmen bewacht, drängen sich über 100000 unterernährte Männer, Frauen und Kinder in dem riesigen Lager aus Zelt- und Kunststoffbehausungen. Eine Frau, die sich etwa 500 Meter von dem umzäunten Bereich entfernt – um sich etwas Brennholz oder Brunnenwasser zu holen –, läuft Gefahr, den Dschandschawid, den arabischen Reitermilizen im Dienst der islamistischen Diktatur von Khartoum, in die Hände zu fallen, was mit Sicherheit ihre Vergewaltigung, vielleicht auch Ermordung, bedeutet.
Wenn die weißen Toyota-Lastwagen des WFP mit der blauen UNO-Flagge nicht alle drei Tage mit ihren hochgeschichteten Reis- und Mehlsäcken, Wasserbehältern und Medikamentenkisten einträfen, würden die Zaghawa, Massalit und Fur hinter den von Blauhelmen bewachten Stacheldrahtzäunen in kurzer Zeit zugrunde gehen.
Noch ein Beispiel für konjunkturellen Hunger: 2011 drängen sich 450000 stark unterernährte Frauen, Männer und Kinder, die vor allem aus Südsomalia kamen, im Lager Dadaab, das die UNO auf kenianischem Boden errichtet hat. Regelmäßig verweigern die Vertreter des WFP anderen
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