Wir lassen sie verhungern
der diese Energie gemessen wird, ist die Kilokalorie. Mit ihr lässt sich die für die Wiederherstellung des Körpers erforderliche Energiemenge messen. Eine unzulängliche Energiezufuhr, ein Kalorienmangel, bewirkt erst Hunger und dann den Tod.
Der Kalorienbedarf verändert sich mit dem Alter: 700 Kilokalorien pro Tag für einen Säugling, 1000 für ein Kleinkind zwischen ein und zwei Jahren, 1600 für ein Kind von fünf Jahren. Die Bedürfnisse des Erwachsenen betragen je nach dem Klima, in dem er lebt, und der Schwere der Arbeit, die er verrichtet, zwischen 2000 und 2700 Kilokalorien am Tag.
Für Erwachsene hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Existenzminimum von 2200 Kilokalorien festgesetzt. Darunter kann der Erwachsene seine Lebenskraft nicht mehr ausreichend wiederherstellen.
Der Hungertod ist qualvoll. Der Todeskampf ist lang und verursacht unerträgliche Schmerzen. Er führt zu einer langsamen Zerstörung des Körpers, aber auch der Psyche. Angst, Verzweiflung und ein panisches Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit begleiten den körperlichen Verfall.
Schwere, permanente Unterernährung bewirkt heftiges und schmerzhaftes körperliches Leiden. Der Betroffene wird antriebslos und büßt nach und nach seine geistigen und motorischen Fähigkeiten ein. Soziale Ausgrenzung, Verlust der wirtschaftlichen Selbständigkeit und, natürlich, Dauerarbeitslosigkeit infolge der Unfähigkeit, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, sind die Folgen. Am Ende wartet unvermeidlich der Tod.
Der Todeskampf des Hungernden weist fünf Stadien auf.
Von seltenen Ausnahmen abgesehen, kann ein Mensch normalerweise drei Minuten leben, ohne zu atmen, drei Tage, ohne zu trinken, drei Wochen, ohne zu essen. Mehr nicht. Dann beginnt der körperliche Verfall.
Bei unterernährten Kindern kündigt sich der Todeskampf sehr viel früher an. Zunächst verbraucht der Körper seine Reserven an Zucker und dann an Fett. Die Kinder werden lethargisch. Sie verlieren rapide an Gewicht. Das Immunsystem bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Wie kleine Tiere rollen sie sich im Staub zusammen. Ihre Arme baumeln kraftlos am Körper. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod.
Beim Menschen bilden sich die Gehirnzellen bis zum fünften Lebensjahr. Erhält das Kind während dieser Zeit keine angemessene, ausreichende und regelmäßige Nahrung, bleibt es sein Leben lang ein Krüppel.
Muss hingegen ein Erwachsener über einen längeren Zeitraum auf Nahrung verzichten, weil er zum Beispiel bei einer Sahara-Durchquerung eine Autopanne hat, und wird er erst im letzten Augenblick gerettet, kann er sein normales Leben ohne Schwierigkeiten wieder aufnehmen. Eine unter ärztlicher Aufsicht durchgeführte intravenöse »Realimentation« bringt ihn wieder in den Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte.
Ganz anders, wenn einem Kind unter fünf Jahren angemessene und ausreichende Nahrung vorenthalten wird. Selbst wenn ihm im späteren Leben eine Reihe märchenhaft günstiger Umstände zuteil werden – wenn sein Vater Arbeit findet, es von einer liebevollen Familie adoptiert wird und so fort – ist sein Schicksal besiegelt. Sein frühkindliches Stigma, die hirnorganische Schädigung, bleibt ihm ein Leben lang erhalten. Keine therapeutische Realimentation kann ihm ein normales, befriedigendes und würdevolles Leben verschaffen.
In sehr vielen Fällen verursacht Unterernährung sogenannte Hungerkrankheiten: Noma, Kwashiorkor etc. Außerdem führt sie zu einer gefährlichen Schwächung der Immunabwehr ihrer Opfer.
In seiner umfassenden Aids-Erhebung zeigt Peter Piot, dass Millionen Erkrankte, die an Aids sterben, gerettet werden könnten – oder zumindest mehr Widerstandskraft gegen die Geißel erwerben könnten –, wenn sie Zugang zu regelmäßiger und ausreichender Nahrung hätten. Piot: »Regelmäßige und angemessene Nahrung bildet die erste Verteidigungslinie gegen Aids.« 13
In der Schweiz liegt – Männer und Frauen zusammengefasst – die Lebenserwartung bei der Geburt etwas über 83 Jahre. In Frankreich bei 82 Jahren. In Swasiland, einem kleinen, von Aids und Hunger verwüsteten Königreich im Süden Afrikas, beträgt sie 32 Jahre. 14
Der Fluch des Hungers reproduziert sich biologisch. Jahr für Jahr bringen
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