Wir lassen sie verhungern
mir: »Gestern hat es dir Eduardo Stein Barillas, der Vizepräsident der Republik, im Präsidentenpalast erklärt: 49 Prozent der Kinder unter zehn Jahren sind unterernährt … 92000 von ihnen sind im letzten Jahr verhungert oder an Hungerkrankheiten gestorben … du musst das verstehen, nachts, die Väter, die Brüder … sie gehen in den Obstgarten der Finca … sie stehlen ein wenig Obst, Gemüse …«
2005 wurden 4793 Morde in Guatemala begangen, 387 im Laufe unseres kurzen Aufenthalts.
Unter den Opfern befinden sich auch vier junge Bauerngewerkschaftler – drei Männer und eine Frau –, die von einem Fortbildungslehrgang im schweizerischen Fribourg zurückkamen. Die Mörder haben ihr Fahrzeug in der Sierra de Chuacas durchlöchert, auf der Route zwischen San Cristóbal Verapaz und Salama.
Ich erfuhr davon bei einem Diner in der Schweizer Botschaft. Der Botschafter, ein entschlossener Mann, der Guatemala liebt und gut kennt, versprach mir, am nächsten Tag beim Außenminister mit aller Entschiedenheit zu protestieren.
An diesem Diner nahm auch die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu teil, eine großartige Maya-Frau, die während der Diktatur des Generals Lucas García ihren Vater und einen ihrer Brüder verlor, als sie bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.
Beim Hinausgehen flüsterte sie mir an der Tür zu: »Ich habe Ihren Botschafter beobachtet. Er war bleich … Seine Hand hat gezittert … Er ist wütend. Das ist ein guter Mensch. Er wird protestieren … Aber nützen wird es nichts!«
In der Nähe der Finca Las Delicias, einer riesigen Kaffeeplantage im Municipio d’El Tumbador, spreche ich mit streikenden Peonen und ihren Frauen. Seit sechs Monaten hat der Besitzer seine Arbeiter nicht bezahlt, angeblich weil der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt eingebrochen ist. 25 Eine von den Streikenden organisierte Demonstration wurde gerade von der Polizei und den Sicherheitskräften der Finca gewaltsam unterdrückt.
Bischof Ramazzini von San Marco, Präsident der Interdiözesanen Landpastorale (PTI), hatte mir berichtet: »Häufig kommt die Polizei nach einer Demonstration nachts zurück und verhaftet wahllos junge Leute … Nicht selten verschwinden sie.«
Meine Mitarbeiter und ich sitzen auf einer Holzbank, vor einer Hütte. Die Streikenden und ihre Frauen stehen im Halbkreis um uns herum.
In der feuchten Hitze der Nacht betrachten uns die Kinder mit ernstem Blick. Die Frauen und jungen Mädchen tragen leuchtend bunte Kleider.
In der Ferne bellt ein Hund.
Das Firmament ist sternenübersät. Der Duft der Kaffeesträucher mischt sich mit dem der roten Geranien, die hinter dem Haus wachsen.
Offensichtlich haben diese Menschen Angst. Ihre schönen braunen Maya-Gesichter verraten es … sicherlich bedingt durch die nächtlichen Verhaftungen und die vielen Menschen, die die Polizei, wie Bischof Ramazzini mir berichtete, »verschwinden« lässt.
Ich komme mir wie ein Idiot vor, während ich meine UN-Visitenkarten verteile. Als wären sie ein Talisman, pressen die Frauen sie ans Herz.
Noch während ich ihnen von den Menschenrechten und einem möglichen Schutz durch die UNO erzähle, weiß ich, dass ich sie verrate.
Denn die UNO wird natürlich gar nichts tun. In ihren Villen in Ciudad Guatemala residierend, begnügen sich die UN-Funktionäre damit, kostspielige Pläne auszuarbeiten, die als Entwicklungsprojekte deklariert sind und von denen die Großgrundbesitzer profitieren. Aber vielleicht wird ja Eduardo Stein Barillas, der Frank La Rue noch aus alten Jesuitentagen kennt, die Polizei von El Tumbador doch verwarnen, damit sie nicht noch mehr junge Streikende »verschwinden« lässt …
Die größte Gewalt, die Bauern angetan wird, ist natürlich die ungerechte Landverteilung. 2011 befanden sich in Guatemala 57 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen im Besitz von 1,86 Prozent der Bevölkerung.
So gibt es in diesem Land 47 Großgrundbesitzungen mit jeweils 3700 Hektar oder mehr, während 90 Prozent der Bauern ihr Leben auf Parzellen von einem Hektar oder weniger fristen.
In Hinblick auf die Gewalt gegen Bauerngewerkschaftler und streikende Demonstranten hat sich die Situation nicht verbessert. Im Gegenteil: Es sind seit meiner Mission in Guatemala mehr Leute verschwunden oder ermordet worden. 26
Am 6. November 2011 wurde Otto Pérez Molina, Ex-General und Vorsitzender der Patriotischen Partei, zum Präsidenten von Guatemala, dem bevölkerungsreichsten Staat Zentralamerikas, gewählt.
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