Wir Tiere: Roman (German Edition)
sagte der alte Mann, » Tiere .«
Da hörten Manny und Joel auf. Sie erhoben sich und keuchten und zogen sich die Kleidung zurecht. Der alte Mann stand in der Tür zu seinem Haus und scheuchte uns von der Veranda runter in die Dunkelheit. Die Luft schwirrte vor Insekten. Kein Mond zu sehen. Sommernächte schienen die wildesten Nächte von allen zu sein.
Es gab noch Millionen von Fragen, über Gott und Heuschrecken und die Ozarks, über das Altwerden und Sterben. Der alte Mann hielt unsere Schüsseln in der Hand, und weil wir ihm nicht in die Augen schauen konnten, sahen wir diese leeren Schüsseln an. Wir schauten so stumm und bohrend, dass er sich abwendete und die Schüsseln irgendwo im Haus abstellte.
»Na los«, sagte er, »haut ab.«
Millionen von Fragen: Warum haben Tiere keine Angst im Dunkeln? Vor allem die winzig kleinen, die Häschen und Vögelchen, die schon am Tag ganz hibbelig sind – was halten die von der Nacht? Wie verstehen sie die? Sind die Bäume und Sträucher und Kaninchenbauten voll mit Ohren, die lauschen und lauschen, und Augen, die sich nicht zu schließen trauen?
Und das Geschmeiß, was ist denn an denen falsch, warum kommen sie als Letzte dran, und was bleibt denen noch zu fressen?
Sprich mit mir
W ir saßen am Küchentisch, hungrig, ungeduldig, lärmend. Wir legten unsere Köpfe in den Nacken und hielten uns die Bäuche. Jeden Abend starben wir vor Hunger. Ma sog an einer Fingerkuppe; sie hatte sich an der schartigen Kante der Suppendose geschnitten. Das Telefon klingelte, Ma drehte sich um und zog den verletzten Finger ploppend aus dem Mund.
»Das ist euer Vater«, sagte sie, ging aber nicht dran, sondern schüttete die Suppe in den Topf und sog wieder am Finger.
Wir hörten auf zu jammern, sahen uns gegenseitig an und schauten zum Telefon hinüber – das war ein neues Spiel. Wir stützten die Ellbogen auf den Tisch, legten unsere Köpfe in die Handflächen und beobachteten Mas Rücken, spiegelten ihr Schweigen wider, warteten auf den nächsten Schritt, aber sie sah uns nicht an und gab auch keine Erklärung ab; sie rührte nur weiter im Topf. Das Telefon klingelte, als die Suppe aufkochte und zischte, es klingelte, als Ma die Brühe in drei Schüsseln gab und sie uns vor die Nase stellte, es klingelte, als wir Kinn und Nase in den Dampf hielten und die Zungen ausstreckten, um die heiße Luft zu probieren. Seit Wochen hatten wir nichts von unserem Vater gesehen oder gehört.
Ma riss eine Tüte Kräcker auf, schüttete sie auf einen Teller, knallte den Teller mitten auf den Tisch und sagte: »Was? Esst.«
Sie setzte sich zu uns und drehte den Stuhl zur Seite. Sie knöpfte ihre Arbeitsschuhe auf, streifte die Socken ab und massierte sich die Füße. Das Telefon klingelte direkt über und hinter ihrem Kopf. Sie wusste, wo Paps war, wusste um das Geheimnis seiner Dringlichkeit, aber sie wollte es uns nicht verraten. Die Fußmassage war ein schlechtes Omen, doch ihr Lächeln, als wir um Nachschlag baten, war noch schlimmer.
»Das war’s«, sagte sie, lächelte krummzahnig und betrachtete ihre lackierten Fußnägel. »Mehr gibt’s nicht.«
Vom gleichmäßigen Tempo des Klingelns in Trance versetzt, festgenagelt von der ewig gleichen Wiederholung, blieben wir noch eine Dreiviertelstunde am Tisch sitzen, fuhren mit den Fingern in unseren leeren Schüsseln herum, drückten unsere Daumenspitzen auf den Kräckerteller und leckten die Krümel ab, lauschten gespannt, hofften, es würde nie aufhören zu klingeln. Paps war irgendwo, an irgendeinem Telefon, in einer Telefonzelle, oder er saß bei irgendwem auf der Bettkante, betrunken oder nüchtern, und es war laut und heiß oder kalt, er war allein, oder es waren noch andere da, doch jedes einzelne Klingeln brachte ihn nach Hause, brachte ihn direkt vor unsere Augen. Der Ton des Klingelns änderte sich, von verzweifelt zu anklagend zu etwas Traurigem, Langsamem, dann war es ein Herzschlag, dann die Ewigkeit – es hatte schon immer geklingelt, es würde immer klingeln –, dann war es das durchdringende Schlagen einer Alarmglocke.
Ma stand auf, hob den Hörer ab und legte ihn mit derselben schnellen Bewegung wieder auf – und einen Augenblick war da nichts, vielleicht sogar eine ganze Minute lang, lang genug, dass sich unsere Ohren und verkrampften Muskeln entspannten, lang genug, sich an etwas zu erinnern und ganz zu realisieren, was wir schon lange vermutet hatten: Stille war Absolution, Stille war dem Glück so nahe, wie wir ihm
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