Wir waren unsterblich (German Edition)
beschwichtigend die Arme aus. „Wenn Hilko jetzt hier wäre, würde er sagen: Bleibt ruhig.“
„Ich kann aber nicht mehr ruhig bleiben!“ Seine Stimme wurde zu einem Kreischen. „Warum ist denn Hilko überhaupt krepiert, häh?“ Die Muskeln an seinem Hals schwollen an. „Weil er mit Töffels Tod nicht fertig wurde!“ Das Glas rutschte aus seiner Hand und landete mit einem hohlen Geräusch auf dem Teppich. „Und weil er erkannte, dass wir ihm etwas vor-machten!“
„Wie meinst du das?“, fragte ich vorsichtig.
Leo deutete mit dem Finger auf uns. „Hilko war immer der Cleverste von uns. Was glaubt ihr denn, warum er trotzdem nie auf die Idee kam, dass einer von uns die Botschaften an die Kellerwände geschmiert hat? Weil er das für völlig ausge-schlossen hielt! Wir waren doch Freunde! Und Freunde verarschen sich nicht!“ Durch das Gebrüll war er völlig außer Atem. Er schwankte und seine Augen suchten das Glas am Boden. Er hob es auf und schüttete sich reichlich Nachschub ein.
„Es war der Lichtlose“, sagte Markus tonlos. „Der Lichtlose hat die Botschaften hinterlassen. Ich habe ein Foto.“
Leo kam so schnell auf Markus zu, dass der Alkohol aus dem Glas schwappte. „Der Lichtlose existiert nicht!“
„Wieso nicht?“, fragte ich.
Leo schloss kurz die Augen. „Weil ich der Lichtlose war.“
„Du?“, staunten Markus und ich gleichzeitig.
„Ja. Ich habe den Spruch dort unten an die Wand geschrieben.“
Markus runzelte die Stirn. Er musste das Gehörte erst verarbeiten. „Warum?“, fragte er dann. Leo sah mich an. Sein Blick war nicht mehr ganz klar und seine Pupillen hatten Probleme, mich zu fixieren. „Wegen dir, Ritsch.“ Ich wusste nichts zu sagen und Leo fuhr fort. Sein Atem roch intensiv nach Schnaps. „Weil ich auch einmal der Mittelpunkt sein wollte. Du ... “ Er tippte mir vor die Brust. „Du warst der Geschichtenerzähler. Alle hörten dir stundenlang zu. Hilko war unser Anführer, Markus musste ständig den Helden markieren und hatte die größte Klappe. Ich war nichts und konnte nichts. Ich hatte noch nicht einmal Geld, um einen auszugeben.“
„Du hast Töffel vergessen“, sagte ich.
„Töffel“, wisperte Leo und sein Blick verschleierte sich noch mehr. „Er ... nun ... wir mussten ihn beschützen.“ Er versuchte weiterhin ohne viel Erfolg, mir fest in die Augen zu sehen. „Ich wollte die Botschaft des Lichtlosen zuerst entdecken. Ich hatte mir sogar eine Geschichte ausgedacht. Eine spannende! Aber du, Ritsch, musstest mir ja auch dabei zuvorkommen.“ Er riss die Hände vors Gesicht und bekleckerte sich dabei mit Cognac. „Alles ist nur durch mich ins Rollen gekommen. Ohne meine kindische Eifersucht würden Töffel und Hilko heute noch leben.“ Er schluchzte und wir standen da wie zwei Idioten. Plötzlich ließ er die Hände fallen, schniefte und sagte: „Markus! Was hast du damals wirklich fotografiert?“ Markus warf mir einen unsicheren Blick zu und sagte: „Ich weiß es nicht.“
Leo lächelte beinahe. „Noch etwas: Nur die erste und letzte Botschaft stammen von mir.“ Er zeigte auf den Zettel mit der Schrift des Lichtlosen. „Der Satz Ich habe ihn! , der nach Charlies Unfall auftauchte, aber nicht. Wie findet ihr das?“
„Warum machst du das?“, fragte ich. „Warum lässt du das Ganze nicht ruhen?“
Jetzt lachte er, ein ebenso hämisches wie verzweifeltes Lachen. „Weil ich endlich die ganze Wahrheit wissen muss. Kapiert ihr? Hilko ist jetzt auch tot.“
„Daran waren die Drogen schuld“, warf Markus ein.
„Nein!“ Leo warf den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke. „Unsere gemeinsame Vergangenheit brachte ihn um. Jeden Tag ein bisschen mehr.“ Als er verstummte, hallte seine Stimme noch einen Augenblick in meinem Kopf wider. Die anderen Geräusche – der Wind vor dem Fenster, das Knistern des Feuers, mein eigenes Atmen – kehrten erst mit Verzögerung zurück.
Leo griff nach dem Cognac, machte sich nicht die Mühe, ein Glas zu benutzen, und trank aus der Flasche. Leicht hin und her schwankend; wie ein angeschlagener Boxer in Erwartung der nächsten Runde stand er vor uns. Das Kaminfeuer in seinem Rücken war so nah, dass er die Hitze spüren musste. „Warum sagt ihr mir nicht endlich die Wahrheit?“, flüsterte er. „Bitte!“
Markus wich seinem Blick aus und ich wünschte mich an einen anderen Ort, wo ich weiter so tun konnte, als sei das alles damals gar nicht passiert.
Leo war mit zwei Schritten neben der
Weitere Kostenlose Bücher