Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
engagieren, die Informationen aufspüren und verarbeiten können und die selbstbewusst sind, Forderungen vorzutragen. 1968 waren das eben «die Studenten», kritisch denkende Leute wie meine Eltern. Und heute sind das auch nicht die Leute, die nach neun oder zehn Jahren Schule mühsam einen Ausbildungsplatz suchen müssen und dann für den Rest des Lebens arbeiten. Sondern meist Leute wie meine Freunde und ich, die den Luxus eines Universitätsstudiums samt Auslandsaufenthalt genießen durften oder dürfen, die in den großen Zeitungen und Magazinen der Nation über ihren Job, ihre politischen Präferenzen und ihre Nöte schreiben. Sie sind es, die Online-Initiativen gründen und erfolgreiche Internet-Petitionen starten.
Das gilt übrigens nicht nur für die jungen Engagierten. In den zahlreichen prominenten Protestbewegungen der vergangenen Monate von Stuttgart 21 bis hin zu «Wir wollen lernen» sind fast nur Gebildete aktiv. Die Politikwissenschaftlerin Johanna Klatt schreibt dazu in ihrem Aufsatz «Die Macht der Zivilgesellschaft und ihre ungleiche Verteilung»: «Es erscheint zunächst einmal gewinnbringend für die Demokratie und ihre politische Kultur zu sein, wenn sich der (oder die) Citoyen engagiert», um dann festzustellen, «dass unkonventionelle Beteiligungsformen wie Unterschriftensammlungen, Bürgerinitiativen, kritischer Konsum oder Online-Protest in der Regel noch ungleicher verteilt sind als etwa die Teilnahme an Wahlen».
Bei den Berufspolitikern ist es ähnlich. Fast alle einflussreichen Politiker in Deutschland gehören dem Bildungsbürgertum an. Wir haben keinen einzigen Minister ohne Universitätsabschluss, viele von ihnen haben sogar einen Doktortitel. Als der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck abtrat, stellten viele Kommentatoren mit leichtem Bedauern fest, dass damit der letzte verbliebene Ministerpräsident ohne Abitur sein Amt abgab.
In der hervorragenden dänischen Politikserie
Borgen – Gefährliche Seilschaften
, deren Hauptperson eine fiktive Ministerpräsidentin namens Birgitte Nyborg ist, lässt Autor Adam Price die dänische Arbeiterpartei, die eine Koalition mit Nyborgs Moderaten eingeht, eine ähnliche Entwicklung durchmachen. Deren Vorsitzender Björn Marrot hat es noch vom Stahlarbeiter zum Außenminister gebracht. Doch Medien und Parteifreunde sticheln gegen ihn, der wegen seiner Unkenntnis diplomatischer Etikette von einem Fettnäpfchen ins nächste tappt. Als Marrot schließlich nach einer Kampagne aus seiner eigenen Partei zurücktreten muss, zeigt er der Regierungschefin ein Tattoo, das er sich in seiner Zeit als Schweißerlehrling hat stechen lassen: «Hätte damals einer gesagt, ich werde einmal Dänemarks Außenminister, ich hätte ihn ausgelacht.» Doch er und seine Leute hätten sich inzwischen «totgesiegt» – die Arbeiter von einst lebten längst in gemütlichen Einfamilienhäusern anstelle von Apartments mit Klos im Hinterhof und überließen den Akademikern die Politik. «Wer hätte geahnt, dass ich mal der letzte Arbeiter in der Arbeiterpartei bin.» Den Parteivorsitz übernimmt ein wohlerzogener Karrierist mit sichtbar bildungsbürgerlichem Hintergrund, der der Arbeiterpartei fortan ein neues «frisches» Image verpasst, das so gar nicht mehr nach Fabrik und Bergbau riecht.
Im realen Deutschland bietet sich ein ähnliches Bild, beileibe nicht nur in der SPD : Satte 90 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag haben einen Hochschulabschluss, so viele wie nie zuvor. Also bestimmen selbst in Parteien, die sich durchaus als Anwälte des kleinen Mannes verstehen – wie etwa SPD und Linke – fast nur Leute, die den Status des kleinen Mannes längst hinter sich gelassen haben, wo es langgeht. Bildungsbürger halt.
Dass es in Deutschlands besonders schwierig ist, in diese Gruppe aufzuschließen, wenn nicht schon die eigenen Eltern dem Bildungsbürgertum angehören, ist bekannt. Das heißt nicht, dass ausnahmslos alle politisch interessierten Jungen Akademikerkinder sind. Für dieses Buch habe ich auch mit Leuten gesprochen, die sich stolz als Arbeiterkinder bezeichnen. Aber auch sie haben letztlich studiert und häufig erst im Studium wirklich angefangen, sich in Parteien oder Bürgerinitiativen zu engagieren.
Deswegen ist es ebenso logisch wie traurig, dass es – wenn es um das Politikverständnis der jungen Generation geht – eben wieder einmal nicht um die Wünsche, Vorstellungen und die Lebenswirklichkeit aller Jungen geht.
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