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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ABER HIER IST es, das Buch, das du liest.
    Offensichtlich.
    Dein Buch – jetzt fängt es an, es ist berührt und aufgeschlagen. Du könntest es anheben, wenn du wolltest, überlegen, ob es wohl mehr wiegt als eine Taube, oder ein Turnschuh, oder wahrscheinlich ein gutes Stück weniger als ein Laib Vollkornbrot. Diese Möglichkeiten bietet es dir.
    Und natürlich schaust du es an. Deine Augen, deine Lippen sind ihm zugewandt – diese ganze Blässe, all diese Zeichen – du bist so dicht dran; wäre es ein Mensch, könntet ihr euch küssen. Das könnte unvermeidlich sein.
    Du kannst dich an Zeiten erinnern, als Küssen unvermeidlich war. Du bist schließlich nicht unattraktiv: nicht, wenn die Menschen dich verstehen, wenn sie verstehen, wer du sein kannst.
    Und du bist ein Leser – eindeutig – hier bist du und liest ein Buch, und dafür wurde es auch geschaffen. Es mag, wenn du es anschaust, dann erwacht es, dann hört es zu und spricht. Es wurde geschaffen, sich deiner Aufmerksamkeit zu erfreuen und sie zu erwidern: mit dem Klang, den es in dir auslöst. Es schenkt dir die Zeichen für die Gestalt der Namen der Gedanken in deinem Mund und deinem Geist, und da singen sie, hier, an dieser Stelle, wo ihr beide euch begegnet.
    Und hier könntest du dir vorstellen, vielleicht sogar hervorrufen, dass das Papier erzittert, dieses unverkennbare Zurückzucken. Es bewegt sich für dich, dein Buch, und es wird dir immer alles zeigen, was es kann.
    Und an dieser Stelle muss es dir den Jungen vorstellen.
    Diesen Jungen.
    Dieser Junge steckt mitten im Sommer 1974, er ist allein und biegt scharf von einer Kurve im Weg ab und klettert in wirren Windungen, und schon ist er hinüber und auf der Weide, sein Ziel ist bereits gesteckt.
    Nein, keine Weide : nur struppiges Gras und Brennnesseln, deren Grün von einem langen, strapaziösen Sommer und Staub bereits ausgebleicht ist.
    Es ist also einfach ein Feld – nicht mehr ganz das, was es im Frühling war.
    Ein Feld mit einem lebendigen Fast-Teenager darin.
    Er ist insgesamt gesehen ein gespanntes, federndes Ding, frei, aber von seiner Freiheit auch verwirrt, und es gibt keinen vorgezeichneten Weg über die Wiese, doch der Junge weiß, wo er hin will, und steuert den fernen Rand an. Schnelle Hände, schnellere Füße, Turnschuhe und ein ausgewaschenes gelbes Hemd, graubraune kurze Hose mit einer zerrissenen Tasche hinten. Seine Kleider sind gleichzeitig zu klein und zu weit, was vermuten lässt, dass er sowohl größer als auch dünner ist als zum Zeitpunkt, da sie gekauft wurden. Er rennt, als würde er verfolgt.
    Vor ihm zuckt die Luft vor Nachmittagshitze, verzerrt – das gefällt ihm. Ihm gefallen ungewisse und veränderliche Dinge – sie scheinen größere Hoffnung auf Trost und Erfolg zu versprechen. Und manchmal sind sie das einzige, was er kriegen kann, also muss er das Beste daraus machen.
    Seine Schritte schlagen, trommeln, als er ein immer schnelleres Tempo einschlägt, die Fäuste bis zur Kehle hebt, den Kopf zurücklegt. Er ist so braun wie alle Kinder der Insel, dunkel von monatelangem Schwimmen, Rennen, Rudern, Klettern, von Fahrrädern und Pferden und kleinen Booten, vom Steine sammeln und Vögel beobachten und den Freuden einfacher Erschöpfung. Im Augenblick ist das Gesicht des Jungen schmal und wild. Aus der Ferne ist schwer zu sagen, ob vor Anstrengung oder Gefühlen.
    Er erreicht den gegenüberliegenden Zaun, schwingt sich hinüber, leicht, fließend, schnell. Sein Körper besteht aus langen, schwierigen Gleichgewichten und Kräften, die ständige Übung erfordern: An manchen Tagen stolpert er, zerbricht Sachen, scheitert. Heute aber liegt er Kopf an Kopf mit seinem eigenen Wachstum. Morgen wird es ihn wahrscheinlich wieder überholen, in dumpfe Ungeschicklichkeit hüllen. Am Ende wird er aus fast jeder Gruppe mit Kopf und Schultern herausragen und seine Größe als Verantwortung spüren, als potentielle Falle. Er begreift das allmählich, doch das Wissen wiegt noch leicht, und er findet Vergnügen daran, sichtbar zu sein, auserwählt, dominant. Auch sein Haar zieht Blicke auf sich – hellblond, an den Spitzen derzeit fast weiß, ein Salzweiß, das sich zur Kopfhaut hin honiggelb verdunkelt. Er ist nicht unattraktiv, doch er wird sich immer nur für passabel halten, als ginge er gerade so durch. Das wird oft charmant wirken.
    Er nimmt den einzig möglichen Pfad voran – ein schmaler Weg zwischen hohen Schlehdornhecken, wie der Eingang eines Irrgartens. Er

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