Wir Wunderkinder
gelbblauen Stadtfarben. Auf dem Rathaus wehten sogar Flaggen, die wir noch nie gesehen hatten: eine schwarzgelbe und eine mit den Farben Weiß-Blau-Rot.
»Das sind die Fahnen unserer Verbündeten von 1813«, sagte ich zu Bruno, und er rümpfte wieder die Nase und antwortete:
»Neben unserer ist das doch alles nichts Richtiges …«
Dann sahen wir uns die geschmückten Schaufensterauslagen an. Beim Metzger Freudenreich stand ein Völkerschlachtdenkmal aus Schweineschmalz, das abends von innen rot zu beleuchten ging, in der Papierwarenhandlung Zechel war unser Großherzog aus Briefmarken geklebt, und im Fenster der Konditorei Müller waren alle Feldherrn von 1813 in Zuckerguß und Wachs porträtähnlich nachgebildet. Bloß dem Blücher war am Nachmittag von der unzeitgemäß warmen Oktobersonne der Schnurrbart abgeschmolzen und hatte sich zu einer Brezel verbogen. Von allen Geschäftsleuten hatte es sich nur der Kaufmann Böckel etwas zu leicht gemacht, indem er auf die ewig grauen Jägerhemden seiner Textilauslage zwei gekreuzte Tannenzweiglein gelegt hatte und dazu ein aus der Sonntagsbeilage des ›Landboten‹ ausgeschnittenes Eisernes Kreuz.
»Der ist ja auch bei den Freisinnigen«, sagte Bruno Tiches naserümpfend.
Am Abend wurde es vollends herrlich. Die Stadt war illuminiert. In allen Fenstern standen kleine Kerzen, und unter Glockengeläut und Vorantritt der Stadtkapelle setzte sich ein Fackelzug in Bewegung, wie er sonst nur am Sedantag üblich war, und an dem auch wir teilnehmen durften. An der Spitze schritt mit Schiffhut und Degen der korpulente Herr Bezirksdirektor, dann kamen die drei Herren von der evangelischen Geistlichkeit, denen – in einigem Abstand – der Kaplan der kleinen katholischen Kirchgemeinde folgte. Hinterher kamen die Reserveoffiziere, an der Spitze der alte Herr Finanzrat, ein Veteran von 1870, der es bis zum Oberstleutnant gebracht hatte. Am schneidigsten sah Herr Textilfabrikant Kienzel als Dragonerrittmeister aus, und ich bedauerte bloß, daß man ihn vom Pferd genommen hatte, weil er auf dem noch prächtiger gewirkt haben würde.
Dem Gemeinderat und dem Schützenverein folgte die Schuljugend. Die Kinder vom ersten bis vierten Schuljahr hatten Lampions, und wir Großen trugen Fackeln. Auch unsere Pauker sahen mit lohenden Pechfackeln grimmig wie altgermanische Recken aus. Nur Gorgo trug den Holzstock eines kindlichen Lampions mit dem Bild eines dicknasigen Viertelmondes in der Rechten, weil er sich vor den ungestümen Fackeln fürchtete.
Das alles zog nun unter Geschwätz, dröhnender Marschmusik und Lichtgeflacker zum frisch bronzierten Denkmal der Germania auf dem Marktplatz, wo sich mit Bürgermeisterrede, Hymnensingen, Kaiserhoch und den Ohnmachtsanfällen einiger alter Damen das Stadt- und landesübliche Festprogramm abspulte.
Aber diesmal geschah noch etwas Besonderes. Als wir gerade singend versichert hatten, daß wir den deutschen Rhein hüten wollten, und Gorgo mit behutsamen Lippen sein Lampionkerzlein ausgeblasen hatte, trat unser weißbärtiger Bürgermeister zum zweiten Mal auf das girlandenumwundene Podium, um, wie der ›Landbote‹ am nächsten Tage schrieb, ›nochmals das Wort zu ergreifen‹. Ich erinnere mich genau an das, was er sagte.
»Meine lieben Mitbürger«, sagte er, und seine Stimme schwankte ein wenig, »soeben teilt mir Herr Ballonführer Rockezoll mit, daß der Wind vor einer halben Stunde von Südsüdost auf Südsüdwest umgeschlagen ist. Sie wissen, was es bedeutet, wenn diese erfreuliche Entwicklung sich noch bis Westsüdwest fortsetzen sollte.«
Wir alle wußten es. Westsüdwest hieß Richtung Denkmal – hieß Richtung Kaiser. Die Bewegung war allgemein. Rittmeister Kienzel, der morgen zur kühnen Besatzung des Luftballons gehören sollte, klirrte mit den Sporen. Herr Rockezoll schüttelte dem Gasinspektor die Hand. Dieser lüftete seinen Zylinder und sah dem Ballonführer mit einem feierlichen Blick in die Augen, als gelobe er, heute nacht noch besseres Gas zu machen. In der erhebenden Stimmung geschah es sogar, daß der etwas kurzsichtige jüngste Geistliche unserer Stadtpfarrkirche sich vom katholischen Kaplan verabschiedete.
Alles in allem war dies der zweitgrößte Tag dieses Jahrhunderts in der Geschichte unserer kleinen Stadt. Der größte sollte der nächste sein, der 18. Oktober.
Bruno Tiches knuffte mich in die Seite und sagte: »Ihr werdet euch morgen wundern.«
Die Silberkugel
Bruno war schon vor mir auf der Wiese
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