Wir Wunderkinder
neben dem Gaswerk. Der Morgen des 18. Oktober 1913 war über alle Begriffe schön und spätsommerlich warm, so daß man geneigt war, noch jetzt den alliierten Fürsten und Feldherren für die kluge Voraussicht zu danken, mit der sie ihren Armeen gerade an diesem Tage zu siegen und zu sterben befohlen hatten. Mit dem Sterben sah es nach hundert Jahren ohnedies nicht mehr so schlimm aus; denn auch ohne Völkerschlacht wären ihre Teilnehmer inzwischen längst tot gewesen. Und so hatten wenigstens ihre Urenkel etwas davon …
»Wenn der olle Reichstag ihm nicht immer dazwischenquatschte«, sagte mein Klassenkamerad Tiches, »könnte unser Kaiser auch mal 'ne ordentliche Völkerschlacht machen, und dann hätten sie in hundert Jahren wieder was zu feiern.«
Ich stimmte Bruno zu, aber mir war doch ein bißchen beklommen zumute, denn wenn es in den nächsten Jahren losginge, müßte ich womöglich mit ›zu den Fahnen eilen‹, wie es in den Kriegsbüchern hieß. Und das Eilen war nun einmal nicht meine starke Seite. Außerdem dachte ich an meine schlechten Erfahrungen im Hippodrom und an die grauen Soldaten beim letzten Manöver.
Von einem dicken Rohr gespeist, begann die silbergraue Gasblase, genannt ›Altenburg‹, sich mehr und mehr zu füllen. Oben spannte sich schon das Tauwerk auf ihrem gewölbten Leib, und sie torkelte ein bißchen hin und her. Die gesamte Städtische Feuerwehr war ausgerückt, um den Ballon vor der ständig wachsenden Zuschauermenge zu schützen. Das Ganze wuchs sich zu einem richtigen Volksfest aus. Bauern kamen auf geschmückten Leiterwagen. Fliegende Händler verkauften bunte Ansichtskarten mit dem Bild des Völkerschlachtdenkmals, über dem in rosa Wolken das Porträt des Kaisers schwebte, sowie Eiserne Kreuze aus Pappe und Quietschschweinchen ohne nationale Motive. Unser Fleischermeister Bürzel hatte am Rande der Wiese einen Holzkohlenrost aufgebaut, auf dem er Bratwürste briet. Senkrecht stieg der fettig duftende Rauch zum Himmel auf.
Um zehn Uhr fünfzehn kam Herr Ballonführer Rockezoll aus dem Festgottesdienst, in dem er nochmals um guten Wind gebetet haben mochte. Er schrie auf, als er Herrn Bürzels Bratrost sah und gab, mit noch höherer Stimme als sonst, zwei Feuerwehrmännern den Befehl, das Holzkohlenfeuer auf der Stelle zu löschen. Ein fliegender Funke hätte, seiner Meinung nach, den Luftballon und das Völkerschlachtfest in einer Katastrophe enden lassen können. Der kurzbeinige Fleischermeister Bürzel zog beleidigt ab und rief, er täte etwas auf die ›Altenburg‹, was er schon wegen der Größe des Ballons nicht hätte tun können.
Wir beiden durften wieder, als Bevorrechtete, neben Herrn Rockezoll, dem Gasinspektor und dessen Sohn Andreas, unmittelbar vor dem Ballon stehen. Später kam auch der Feuerwehrhauptmann, Zimmermeister Fielitz, dazu, und der Ballonführer, der jetzt eine dicke Lederjacke anhatte, auf der ein Trillerpfeifchen schaukelte, besprach mit dem Hauptmann die verschiedenen Signale beim bevorstehenden Aufstieg.
Um elf Uhr war es soweit. Die Silberkugel strammte in ihrem Netzwerk, man hörte ein leises Zischen strömenden Gases, dann trillerte Herr Rockezoll zum erstenmal und rief durch eine Blechtute, die er aus dem Ballonkorb holte:
»Gas weg!«
Er hätte es dem Herrn Gasinspektor ebensogut leise sagen können, aber so wirkte es besser. Das dicke Rohr wurde zurückgezogen und abgedichtet.
Inzwischen traf auch die Ballonbesatzung ein. Herr Textilfabrikant Kienzel trug ein eindrucksvolles Sportzivil: lackglänzende Reitstiefel, weitausladende englische Breeches und ein pelzgefüttertes Jackett, das ihm den Schweiß aus allen Poren trieb. Frau Kienzel hatte verweinte Augen, und der einzige Sohn, der mit Bruno wegen Evelyna Meisegeier gewettet hatte, grinste aus Verlegenheit oder Schadenfreude. Außer Kienzel erschienen als weitere Passagiere noch ein großer, finster blickender Herr – ein Berliner Bankier, wie man hörte – und ein ängstlich dreinschauender kleiner Mann, der mit zitternden Fingern unentwegt auf einen Notizblock schrieb. Er wurde von Herrn Rockezoll als Pressevertreter aus der Landeshauptstadt vorgestellt.
Nun wurde es aufregend. Herr Rockezoll trillerte wieder. Daraufhin gab der Hornist der Feuerwehr das Signal ›Wasser marsch!‹, das zwar nicht ganz hierher paßte, aber die Tausende von Zuschauern in der Runde zu ehrfürchtigem Verstummen brachte. Mit seiner hohen Tante-Remmy-Stimme verkündete der Ballonführer durch
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