Wir zwei allein
unbedingt immer was Besonderes erleben?, sage ich. Soll ich jetzt Mountainbiker werden? Oder Paraglider? Nur weil ich zufällig im Schwarzwald wohne? Oder soll ich Professor werden, nur weil es hier eine Universität gibt und ich ein paar Semester studiert habe?
Ich meine ja nur, sagt Rudi.
11 Ich habe ihre Vermieterin angelogen. Blumengießen. Etwas holen. Ach, wie schön, sagte sie. Und klimperte aus einem Küchenschrank den Schlüsselbund. Es roch nach ausgekochtem Huhn, aus einem hinteren Zimmer quengelte ein Kind. Diese Stille in Theres’ Wohnung. Der Kachelofen in ihrem Schlafzimmer. Das Bild von Edith Piaf an der Wand neben dem Fenster. Das Messingschälchen. Der Mannequin in der Ecke. In ihrem Bett bin ich in eine Schwärze gesunken. Bin erst am nächsten Morgen aufgewacht. Ein Prospekt vom Februar auf ihrem Küchentisch, der Ohrwurm in einem Marmeladenglas, die Strickjacke über der Stuhllehne. Das Gurren der Tauben auf dem Fenstersims. Und die Stille, die aus den Räumen spricht.
12 Ein kleiner Ratgeber zum Großwerden: Das Entscheidende am Großwerden ist das Kleinwerden. Die aufgeblasene Gummiinsel (die Jugend) anstechen! Einen geordneten Rückzug antreten: Während die Insel runzlig wird und in sich zusammensinkt – zuerst kippt die Palme –, ist es wichtig, den schlaffen Gummistoff richtig zu falten. Das, was da ausströmt, ist übrigens der Glaube. In vielen Fällen wird das verwechselt mit Hoffnung oder Vertrauen, aber der religiöse Charakter aller Hoffnung und allen Vertrauens darf nicht geleugnet werden. Schritt eins also: Glauben ablassen, klein werden auf rechtwinklige Art und Weise, verräumbar in den Keller, in den Schrank. Schritt zwei: Kapitulation unterschreiben! Eine charakteristische Unterschrift entwickelt zu haben ist bereits Teil der Kapitulation und demonstriert Entschlossenheit. Den Prozess zementieren auf den im Umlauf befindlichen Formularen: Kontoabschluss, Mietvertrag, Vereinsbeitritt. In Sonderfällen genügen mündliche Zusagen, etwa zur Verlobung oder Freundschaft auf Lebenszeit. Der zweite Schritt ist der öffentlichkeitswirksamste. Schritt drei hingegen ist subtil auszuführen: Zufriedenheit entwickeln! Sich freuen, wenn eine Prüfung gelingt. Glücklich sein, wenn die Zusage zur Anstellung im sogenannten Traumberuf erfolgt. Feiern, wenn die Frau der Sehnsüchte die Liebe erwidert. Überhaupt, die Liebe. Zum Großwerden muss man sich der Liebe bewusst werden, die hinter allem lauert. Man muss die Angst zuschütten vor der Liebe. Zuschütten mit Schutt, also frühzeitig Ruinen aufsuchen und kräftig abtragen.
13 Die Alpensegler sind jetzt da. Sie schreien jeden Abend zwischen acht und neun und stürzen von ihren Flügen um die Spitzen der Hochhäuser in die Straßentäler hinab. Sie streifen die Köpfe der Menschen, die in kurzen Hosen und T-Shirts an den Metalltischchen der Cafés sitzen. Das Wasser in den Bächle plätschert. Aus dem Feierling-Biergarten klingen dumpfe Stimmen zum Augustinerplatz herüber. Der Sommer rollt heran. Mit schwerem Belagerungsgerät.
14 Es gibt einen Plan: Ich werde sie auf den Münsterturm mitnehmen. Kurz vor acht, wenn die Touristen schon Gutedel trinken und die Tauben dort oben in ihr Nachtquartier zurückkehren und wenn der warme Wind aus dem Höllental über die roten Simse und Basilisken sein Rennen in die Oberrheinebene beginnt, einem brennenden Himmel über Frankreich entgegen. Es ist die beste Tageszeit, werde ich sagen. Und dort oben erzähle ich dir die interessanteste Geschichte dieser Stadt, Theres. Sie ist fünfhundert Jahre alt und traurig und schön zugleich. Ihre Augen werden zu leuchten beginnen. Sie wird mich kindlich von unten ansehen. Dem Pförtner wird sie einen Kuss aufdrücken, Sie sind ein Schatz. Sie wird schnelle Schritte auf der Wendeltreppe machen und Komm schon! rufen und wird an jedem Absatz warten: Du solltest wirklich weniger rauchen. Die Aussicht wird uns beide taumeln machen. Der Wind wird uns um die Ohren pfeifen. Ich werde mich am Geländer festhalten, mein Magen wird singen und tanzen. Ich werde ihr keine Geschichte erzählen. Ich werde kein Wort vom Junker Gotthelf sagen, der dort unten neben dem alten Rathaus als Sekretär des Grafen lebte. Kein Wort von der Tochter des Grafen, Lise. Kein Wort von Gotthelfs Pakt mit Dr. Faustus aus Staufen. Kein Wort von dem tödlichen Unfall des Grafen bei der Jagd, der Flucht in die Ravenna-Schlucht, dem Sprung über die Klamm und dem
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