Wir zwei allein
mit uns erlaubt. Das alles passiert doch gar nicht.
Ein Irokese
1 Ich habe einen Traum, sagt Niko. In diesem Traum mache ich mich verdient um die Sache der globalen Brüderlichkeit. Für meine Verdienste schenkt man mir ein Gefangenenlager in Nordkorea. Jeden Morgen lasse ich mich von einem Soldaten im offenen Jeep durch das Lager fahren. Alle Lagerinsassen haben vor den Baracken anzutreten und zu salutieren und meinen Namen zu rufen.
Und wie gedenkst du dich um die globale Brüderlichkeit verdient zu machen?, fragt Uli.
Durch eine selbstlose Tat, sagt Niko, die den ausgebeuteten Völkern dieser Erde zugutekommt.
Ich gehe nach Hause, sage ich.
Was? Es ist erst neun, sagt Niko.
Ich bin müde.
Wir unterhalten uns gerade.
Ich muss schlafen.
2 Montag. Ich klingle, Theres macht nicht auf. Seit einer ganzen Woche schon. Aber das täuscht. Man müsste sich der Zeit annehmen. Ihrer fragwürdigen Beschaffenheit. Man müsste das geheime Türchen knacken, hinter dem das Uhrwerk sitzt. Es ist im allerkleinsten Punkt der Zeit das Nichts eingefangen. Dort, wo Zahnrad auf Zahnrad trifft, im synaptischen Spalt der Welt.
Nichts überträgt Nichts. Das ist das ganze Geheimnis. Berühren sich die Hände von zwei Liebenden – das gleiche Phänomen. An der äußersten Spitze der Fingerarchipele tut sich eine unüberbrückbare Lücke auf. Die Leere ist das Medium, über das wir Kontakt aufnehmen.
3 Ich könnte herausfinden, wo diese Burg ist. Und was Theres dort macht. Sie ist irgendwo in der Schweiz. Die Schweiz ist wie ein zusammengeknülltes Tischtuch. Ich könnte diese Burg finden. Ich könnte eine Telefonnummer herausbekommen. Auch in den Bergen gibt es Telefone. Ich könnte einfache Fragen stellen. Ich könnte mir den Sprinter leihen.
4 Jetzt wird es wirklich Frühling. Auf den Feldern hinter Merdingen fällt es mir zum ersten Mal auf. So eine Ahnung von Grün über den Ackerfurchen. Und die Birken haben etwas Jugendliches. In der Luft das hektische Vogelgeplärr, und durch das offene Seitenfenster kommt der Geruch, der hauptsächlich die Aufgabe hat, etwas anzukündigen.
Seit drei Wochen habe ich abends kein Licht bei Theres gesehen. Ich klingle, sie öffnet nicht. Gestern traf ich zufällig ihre Vermieterin, eine junge Mutter, die im Parterre wohnt. Sie sagte, Theres habe ihren Ersatzschlüssel bei ihr abgegeben, wegen der Post und so weiter. In ihrer Küche roch es nach Blumenkohl. Es gibt jetzt junge Kartoffeln auf den Märkten, sagte sie. Ich weiß, sagte ich.
Später sah ich am Augustinerplatz den ärmsten Mann unserer Stadt. Im Sommer verkauft er illegal Bier an der großen Treppe, wo abends die Jugendlichen sitzen. Man nennt ihn den Rattenmenschen. Weil er klein ist und ein spitzes Gesicht hat, und weil die Münzen schnell in seiner Tasche verschwinden. Ich folgte ihm und seinem Fahrrad mit dem Korb bis zur Dreisam, bis zu der Stelle, an der das Wasser aus dem Kanalisationsrohr in den Fluss sprudelt. Ich schlüpfte hinter ihm in die Dunkelheit. Weit vor mir huschte der Kegel seiner Taschenlampe über die Wände. Das Scheppern der Schutzbleche und sein Gebrabbel hallten mir entgegen. Ich folgte ihm, bis über mir die Straßenbahnen ratterten und alles vibrierte. Ich hab es überprüft: Er lebt direkt unter dem Karstadt.
Ich kenne sie alle. Gisbert, der die gebrauchten Taschentücher von Frauen aus den Mülleimern fischt. Helmut, genannt der Dumme. General Rufus, der am Eingang zur Buchhandlung Walthari Wache schiebt. General Rufus ist über zwei Meter groß und hat schlohweiße Haare. Niko behauptet, dass er aus Bosnien stammt und von den Serben misshandelt worden ist. Stellt man sich ans Schaufenster, dann beginnt der General in perfektem Deutsch Prometheus von Goethe zu zitieren: Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst, und übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöhn.
5 Theres ist nicht verschwunden. Das würde dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit widersprechen. Alles Leben ist Vorstellung. Mein Körper ist um die Hälfte leichter, schwerer. Theres, wie sehr sind meine Organe schon in dich hinübergewachsen. Es muss nachts passiert sein, die Blutgefäße und Nervenbahnen haben unbemerkt Kontakt aufgenommen. Wo sollst du denn hingegangen sein? Mit wem? Etwa mit diesem Stefano? Dem schwulen Musiker aus Stuttgart? Das ist die große Lüge, entworfen in den gesellschaftlichen Eingeweiden. Die dunklen Prozesse der Angst in meiner Bauchhöhle
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