Wittgenstein
Oft ist es dir zu anstrengend, etwas zu sagen. Du denkst etwas, das wert wäre, gesagt zu werden, und sagst es nicht. Dabei spielt keine Rolle, ob es schon Millionen Male zuvor gesagt wurde, weil viel Dümmeres viel häufiger gesagt wird. Du sagst es nicht, weil es dich anstrengt, die gedachte Bemerkung zu machen und das sich anschließende Gespräch tatsächlich zu führen. Ein Gespräch, das du genauso gut alleine in deinem Kopf führen könntest, weil das Allermeiste, was du zu hören bekommst, im Bereich des Wahrscheinlichen, Erwartbaren liegt und du es mindestens zehn Mal schon in etwa so gehört hast. Sicherlich sind die ständigen Wiederholungen das Anstrengende. Meist führst du nicht mal mehr im Kopf Gespräche. Du sitzt auf einem hölzernen Stuhl an einem hölzernen Tisch in einem schwach beleuchteten Raum mit einem Getränk vor dir. Es ist spät in der Nacht, und du starrst vor dich hin, ohne jene anstrengenden inneren Gespräche, die du dir sparen kannst. Von außen siehst du nachdenklich aus, aber das bist du nicht, und du bist nicht der Einzige. Es gibt viele, die nichts sagen, nicht mal innerlich. Sie sitzen an ihren Tischen oder am Steuer oder stehen oder liegen irgendwo, und es ist fraglich, ob sie je eine Wahl hatten. Früher vielleicht, als sie noch jung waren. Irgendwann ganz bestimmt nicht mehr. Etwas nicht zu wollen und etwas nicht zu können ist oft ein und dasselbe. Das ist Einsamkeit: Sie zentrieren sich um einen weichen schwarzen Fleck, der so groß ist, dass die Ränder nicht zu erkennen sind. Und dann stehen sie auf und tun irgendwas, einfach um irgendwas zu tun.
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Als Hundehalter ist man es gewohnt, morgens aufzustehen und schon Minuten später seinen bleichen Atem in der Luft aufsteigen zu sehen. Oft weiß der Hundehalter nicht, ob er vom Klingeln des Weckers oder vom Bellen des Hundes geweckt wurde. Mit einer Tasse Kaffee in der schlecht durchbluteten Hand steht er einen Augenblick an der Haustür und nimmt hastig noch einen großen Schluck, an dem er sich den Mund verbrennt, bevor er die halb volle Tasse auf die Ablage an der Garderobe stellt und mit dem Hund in die winterliche Kälte hinausgeht. Aus der schwarzen Hundenase tropft etwas und verschwindet in dem Haufen, den der Hund beschnuppert. Der Hund ist eine Promenadenmischung und mehr Hamster als Wolf. Einer von den reinrassigen, großen Hunden hätte sich in den feuchten Haufen verbissen und so lange daran herumgezerrt, bis er seinem Herrchen ein Stück davon hätte apportieren können. Der Hamster-Hund hat jedoch ein Alter erreicht, in dem er sich von nichts mehr allzu sehr aufregen lässt, und so begnügt er sich damit, seine Nase überall da reinzustecken, wo sie ohne viel Aufwand hinkommt. Er gehört zum versonnenen Typus Hund und ist mit sich und seiner Welt zufrieden, daher gehorcht er eher selten, macht seinem Herrchen aber auch keine größeren Probleme, wirft nicht irgendwelche Rentner um, beißt keine Schulkinder in die Waden oder rammt nicht wie von allen Hundesinnen verlassen Beulen in Autotüren. Sein Herrchen hat sich, als Krone der Schöpfung und Wunder der Anpassung, mit einigem Erfolg angewöhnt, geduldig auf ihn zu warten. Auch mal mitten auf einer Wiese stehen zu bleiben und nichts zu tun als stehen. Heute ist wieder so ein Tag. Das Herrchen steht auf der Wiese vor sich hin und blickt in den hellblauen Winterhimmel über Wittgenstein. Und wie er in den Himmel blickt, ist ihm, als könne er begreifen, warum Geister durch Mauern schweben. Warum es angesichts dieses Winterhimmels über Wittgenstein so sein muss, dass Geister durch Mauern schweben. Er steht da und wartet, bis der Wind ihm eine schmerzhafte Brise Schnee gegen die Schneidezähne weht. Dann macht er den Mund zu, nur um ihn tapfer gleich wieder zu öffnen und nach seinem Tier zu rufen. Der Hamster-Hund denkt nicht daran, zu kommen, außerdem müssten seine Ohren wieder mal sauber gemacht werden. Wenn es um die Pflege der Ohren geht, blickt das Herrchen lieber gedankenverloren in den Himmel und lässt die Hundeohren Hundeohren sein. Nun stapft er mit wirklich ausladenden Schritten durch den knietiefen Schnee, und ein Blick auf seine Uhr zeigt ihm, dass es Zeit wird, sonst wird er heute zu spät zur Arbeit kommen. Er weiß genau, dass er morgens nicht bis auf die Wiese gehen sollte. Einmal ums Haus herum würde vollkommen genügen. Warum geht er immer bis runter auf die Wiese? Jetzt kann er die zweite Tasse Kaffee vergessen, obwohl ihm die
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