Wittgenstein
man/Scared of that man ...«
Über die gesamte Länge des Stücks bleibt der Sänger auf Marcos Arm. Gegen Ende legt Marco ihn behutsam auf den Boden, wobei er mit der linken Hand den Hinterkopf stützt wie bei einem Baby. Der Sänger flüstert ihm ein »Thank you, my dancing partner« ins Ohr, springt ohne Zuhilfenahme seiner Arme auf die Beine und bewegt sich Richtung Bühne, wo der Gitarrist bereits in der für ihn typischen, unsportlichen Gelassenheit mit dem Slidegitarren-Intro des nächsten Stücks angefangen hat.
In Marcos Oberkörper kribbelt es bis zum Hals, als hätte sich eine Horde kleinster Tiere von tief unten auf den Weg zu seinem Hirn gemacht. Um ihn herum tanzen alle. Er wackelt ein bisschen hierhin und dorthin und ist dabei nicht ganz im Takt. Etwas steif in den Knien, einem sehr komplizierten Gelenk, bei dem man nie weiß, wie lange es noch ohne Probleme funktioniert, zieht er sich an die Theke zurück. Die Frau dahinter bedient ihn mit unaufdringlicher Professionalität, und wie von Geisterhand steht immer zum genau richtigen Zeitpunkt eine frische Flasche vor ihm. Die Tierchen in seinem Körper kommen gut vorwärts.
Nach einer kleinen, sommernächtlichen Odyssee, die ihn vom Mile End ins Petit Italie brachte, weil er zuerst und eine ganze Weile in die falsche Richtung torkelte, und von da wieder zurück aufs Plateau, Avenue Laval mit Sherbrooke, stolpert er die Treppe nach oben ins Vestibül und ist wieder zu Hause. Außer Atem lehnt er an einer der Wände im Flur und starrt das Sofa an. Ein trauriger Anblick, wie es dort stellvertretend für das ganze Haus und all seine Bewohner ausharrt. Die Zeit pfeift durch die Polster und rüttelt am Bezug, und das ohne Pause, wie es Zeit eben macht, ohne Pause. Wenn er genau hinhört, kann er sie hören, die pfeifende Zeit. Ein Geräusch, das immer undeutlicher wird, je genauer man es hören will. Eine Rückkopplung, die leiser wird, aber nie ganz verschwindet, ein Geräusch, von dem man nie weiß, ob es wirklich da ist. Nur weü du es nicht hörst, heißt das nicht, dass... Wer weiß, wie oft er überhaupt noch Gelegenheit hat, auf dem Sofa zu sitzen? Lacht es ihn an, oder lacht es ihn, verdammt noch mal, aus? Oder lacht es überhaupt nicht? Wahrscheinlich lacht es überhaupt nicht. Sofas lachen nicht. Nicht einmal solche alten, seit Jahren unbenutzten Sofas in den Fluren abgewrackter Herbergen. Worüber sollte ein solches Sofa lachen? Bevor er anfängt, darüber nachzudenken, wirft er sich auf das blassrote Sitzmöbel, das unter seinem Gewicht quietschend zusammenzuckt und wie zur sinnlosen Verteidigung eine Staubwolke aufsteigen lässt.
Im selben Moment öffnet sich die Badezimmertür, und ein ebenso behaarter wie magerer Mann tritt in den Raum. Sein langes, dunkles Haar ist nass, und um seinen Bauch hat er ein schwarz-rot gestreiftes Handtuch gewickelt. Einen Augenblick lang übersieht der Mann die Person auf dem Sofa. Sein langer, tropfender Bart taumelt über der schmächtigen Brust wie bei Millionen anderer Männer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er könnte, so besehen, einfach irgendein bärtiger Mann sein, der nach einer Dusche aus einem Badezimmer kommt, und nicht der Mann, dessen Türe tagsüber niemals aufgeht. Er könnte ein glückliches Wesen sein, eins mit sich und seiner Welt, die in diesem Moment von einer einzigen nackten Glühbirne in ein eher schummriges Licht getaucht wird. Seine ruhigen, fließenden Bewegungen gleichen denen des alten Inders. Der Kopf ruht hoch erhoben über dem gleichen aristokratisch geraden Rücken. Der Mann, dessen Türe sich tagsüber nie öffnet, ist schön, als er aus der Dusche kommt. Schön, wie man die Welt in ihrer Gesamtheit als schön bezeichnen kann. Das aber ändert sich schlagartig, als er den Nachbarn auf dem Sofa sitzen sieht. Da bricht sie in sich zusammen, die Schönheit dieser Welt. Hinter all den Haaren verkrampfen seine entspannten Gesichtszüge, und in den dunklen Augen des Mannes flackert uralte Panik auf, als stünde er mit etwas wie einem großen Bären im Vestibül. Die Sprungfedern des alten Sofas beginnen zu zittern. Bevor irgendwas anderes passieren kann, senkt der Mann den Blick und damit seinen gesamten Oberkörper und läuft mit kurzen abgehackten Schrittchen im Zickzack durch den quadratischen Raum zu seiner Tür. Ob sich hinter dem leisen Wimmern, das dabei aus seinem Mund kommt, Worte verbergen, lässt sich beim besten Willen nicht sagen. Leise, aber bestimmt fällt
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