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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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deren Schatten sie heranwuchs. Ted Cole, Bestsellerautor und Illustrator von Kinderbüchern, war ein gutaussehender Mann, dem es mehr lag, für Kinder zu schreiben und zu zeichnen, als alltägliche Vaterpflichten zu erfüllen. Und wenn er in der Zeit, bis Ruth viereinhalb war, auch nicht immer betrunken war, trank er doch häufig zuviel. Und selbst wenn es stimmt, daß er nicht jede wache Minute hinter den Frauen herlief, gab es doch sein Leben lang keine Zeit, in der er nicht hinter den Frauen herlief. (In dieser Beziehung war er noch unzuverlässiger als mit Kindern.)
    Kinderbuchautor war Ted gewissermaßen aus Verlegenheit geworden. Sein literarisches Debüt gab er mit einem übermäßig hochgelobten Erwachsenenroman, der zweifellos literarische Qualität besaß. Die zwei folgenden Romane sind nicht der Rede wert; erwähnenswert ist lediglich, daß kein Mensch – schon gar nicht Ted Coles Verleger – Interesse an einem vierten Roman bekundete, der auch nie zustande kam. Statt dessen schrieb Ted sein erstes Kinderbuch. Es hieß Die Maus, die in der Wand krabbelt und wäre um ein Haar nicht erschienen. Auf den ersten Blick handelte es sich um eines jener Kinderbücher, die für Eltern einen zweifelhaften Reiz besitzen und Kindern nur deshalb im Gedächtnis bleiben, weil sie sich daran erinnern, Angst bekommen zu haben. Zumindest Thomas und Timothy bekamen Angst, als Ted ihnen die Geschichte zum erstenmal erzählte; als Ted sie später seiner Tochter Ruth erzählte, hatte Die Maus, die in der Wand krabbelt bereits neun oder zehn Millionen Kindern auf der ganzen Welt in über dreißig Sprachen Angst eingejagt.
    Ruth wuchs, wie ihre toten Brüder, mit den Geschichten ihres Vaters auf. Als sie sie zum erstenmal in einem Buch las, empfand sie das als Verletzung ihrer Privatsphäre. Sie hatte sich eingebildet, ihr Vater hätte sich diese Geschichten einzig und allein für sie ausgedacht. Später fragte sie sich, ob ihre toten Brüder auf die Bücher ähnlich reagiert hatten.
    Nun zu Ruths Mutter: Marion Cole war eine wunderschöne Frau. Und sie war eine gute Mutter, zumindest bis Ruth zur Welt kam. Bis zum Tod ihrer geliebten Söhne war sie auch eine loyale und treue Ehefrau gewesen – trotz der unzähligen Seitensprünge ihres Mannes. Doch nachdem ihr jener schreckliche Unfall beide Jungen genommen hatte, wurde Marion ein anderer Mensch, kalt und distanziert. Daß sie sich ihrer Tochter gegenüber scheinbar gleichgültig verhielt, machte es Ruth relativ leicht, ihre Mutter abzulehnen. Schwieriger sollte es für Ruth werden, die schwachen Seiten ihres Vaters zu erkennen; vor allem brauchte sie dafür ungleich länger, was für sie zur Folge hatte, daß es dann zu spät war, sich ganz und gar gegen ihn zu stellen. Ted bezauberte sie – er bezauberte fast alle Menschen bis zu einem gewissen Alter. Von Marion war nie jemand bezaubert. Die arme Marion versuchte es erst gar nicht, nicht einmal bei ihrer einzigen Tochter; und doch war es möglich, Marion Cole zu lieben.
    Und hier nun betritt Eddie, der unglückselige junge Mann mit dem unzureichenden Lampenschirm, die Szene. Er liebte Marion, und er sollte nie aufhören, sie zu lieben. Hätte er freilich von Anfang an gewußt, daß er sich in Ruth verlieben würde, hätte er sich die Sache mit ihrer Mutter vielleicht anders überlegt. Aber wahrscheinlich doch nicht. Eddie konnte gar nicht anders.
    Ferienjob

    Er hieß Edward O’Hare. Im Sommer 1958 war er gerade sechzehn, und daß er seinen Führerschein hatte, war eine wichtige Voraussetzung für seinen ersten Ferienjob. Freilich war Eddie O’Hare nicht klar, daß sein eigentlicher Ferienjob, wie sich herausstellen sollte, darin bestand, Marion Coles Liebhaber zu werden; Ted Cole hatte ihn eigens zu diesem Zweck angeheuert, und das sollte lebenslange Folgen haben.
    Eddie hatte von dem tragischen Unglücksfall in der Familie Cole gehört, doch wie die meisten Teenager schenkte er den Gesprächen der Erwachsenen nur sporadisch Beachtung. Er hatte sein zweites Jahr an der Phillips Exeter Academy beendet, wo sein Vater Englisch unterrichtete; und über eine Exeter-Verbindung kam Eddie auch an diesen Job. Eddies Vater glaubte felsenfest an Exeter-Verbindungen. Als ehemaliger Schüler der Academy und späterer Lehrer fuhr O’Hare senior nie ohne sein abgegriffenes Exemplar des Exeter-Verzeichnisses in Urlaub. In seinen Augen waren die Absolventen der Academy die Standartenträger einer dauerhaften Zuverlässigkeit; Exonianer

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