Witwe für ein Jahr (German Edition)
vertrauten und halfen einander, wo sie nur konnten.
Nach Ansicht der Academy hatte sich das Ehepaar Cole der Schule gegenüber bereits sehr großzügig gezeigt. Die verunglückten Söhne waren erfolgreiche und beliebte Schüler gewesen; und so hatten Ted und Marion Cole trotz ihres großen Kummers, oder wahrscheinlich deswegen, Gelder für einen jährlich wechselnden Gastdozenten für englische Literatur – das war Thomas’ und Timothys bestes Fach – zur Verfügung gestellt. »Minty« O’Hare, wie O’Hare senior von unzähligen Exeter-Schülern genannt wurde, war süchtig nach atemerfrischenden Pfefferminzpastillen, die er im Unterricht hingebungsvoll lutschte, während er laut vorlas; er liebte es über die Maßen, aus den Büchern, die er als Lektüre aufgegeben hatte, seine Lieblingspassagen vorzutragen. Der sogenannte Thomas-und-Timothy-Cole-Lehrstuhl war Minty O’Hares Idee gewesen.
Als Eddie seinem Vater eröffnete, daß er sich für den Sommer am liebsten einen Job als Assistent bei einem Schriftsteller suchen würde – der Sechzehnjährige führte seit langem Tagebuch und hatte in letzter Zeit etliche Short Stories geschrieben –, konsultierte O’Hare senior ohne zu zögern sein Exeter-Verzeichnis. Gewiß gab es unter den Absolventen viele Schriftsteller von höherem literarischem Rang als Ted Cole – Thomas und Timothy hatten die Exeter Academy besucht, weil Ted ein Ehemaliger war –, aber da es Minty O’Hare erst vor vier Jahren gelungen war, Ted Cole zu überreden, sich von 82000 Dollar zu trennen, wußte er, daß dieser Mann leicht zu überreden war.
»Sie brauchen ihn nicht groß zu bezahlen«, hatte Minty Ted Cole am Telefon erklärt. »Der Junge könnte Manuskripte abtippen, Briefe beantworten oder Botengänge für Sie erledigen, was immer Sie wünschen. Es geht ihm hauptsächlich um die Erfahrung. Ich will damit sagen, wenn er meint, er möchte Schriftsteller werden, sollte er mitbekommen, wie ein Schriftsteller arbeitet.«
Ted war am Telefon unverbindlich, aber höflich gewesen; außerdem war er betrunken. Er hatte einen eigenen Spitznamen für Minty O’Hare – er nannte ihn »Pushy«, wegen seiner aufdringlichen Art. Und es war in der Tat typisch für Pushy O’Hare, daß er Ted Cole auf die Fotos im 1957er PEAN (dem Jahrbuch der Exeter Academy) hinwies, auf denen Eddie zu sehen war.
In den ersten paar Jahren nach Thomas’ und Timothys Tod hatte Marion die Jahrbücher aus Exeter angefordert. Wäre Thomas noch am Leben, hätte er 1954 seinen Abschluß gemacht, Timothy zwei Jahre später. Doch nun trafen die Jahrbücher jedes Jahr ein, auch noch nach dem potentiellen Abschluß der beiden – auf freundliche Veranlassung von Minty O’Hare, der sie regelmäßig schickte, um Marion die zusätzliche Qual des Nachfragens zu ersparen. Marion sah sie auch weiterhin getreulich durch; wiederholt fielen ihr einzelne Jungen auf, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Thomas oder Timothy besaßen, doch nach Ruths Geburt hörte sie auf, Ted auf diese Ähnlichkeiten aufmerksam zu machen.
Auf dem Foto des Junior-Debattierclubs im Jahrbuch 1957 sitzt Eddie O’Hare in der ersten Reihe; in seiner dunkelgrauen Flanellhose, seinem Tweedjackett und mit der in den Schulfarben gestreiften Krawatte wäre er nicht weiter aufgefallen, wären da nicht sein beeindruckend offenes Gesicht gewesen und die dunkle Ahnung künftigen Leids in den großen, braunen Augen.
Auf dem Foto war Eddie zwei Jahre jünger als Thomas und so alt wie Timothy zu der Zeit, als die beiden ums Leben kamen. Trotzdem sah er eher Thomas ähnlich als Timothy; noch größer war die Ähnlichkeit mit Thomas auf einem Foto des Sportclubs, auf dem Eddie weniger pickelig und selbstbewußter wirkte als die meisten seiner Kameraden, deren Interesse an sportlicher Betätigung im Freien, wie Ted Cole vermutete, auch weiterhin unvermindert anhielt. Sonst war Eddie im Exeter-Jahrbuch 1957 nur noch auf zwei Fotos von Leichtathletik-Teams zu sehen: den Juniorenmannschaften im Geländelauf und im Kurzstreckenlauf. Eddies magerer Körper läßt darauf schließen, daß er eher aus Nervosität lief als zum Vergnügen und daß das Laufen womöglich seine einzige sportliche Betätigung war.
Diese Fotos des jungen Edward O’Hare zeigte Ted Cole mit gespielter Gleichgültigkeit seiner Frau. »Dieser Junge sieht Thomas ziemlich ähnlich, findest du nicht?« fragte er.
Marion hatte die Fotos schon gesehen; sie sah sich sämtliche Fotos in sämtlichen
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