Wo bist du und wenn nicht wieso
gerade in der Anbahnung ist es wichtig, nicht nach Wahrheiten zu suchen, sondern Interesse zu zeigen. Wenn potenzielle Partner anerkennen, dass es immer zwei Wahrheiten gibt, muss sich keiner falsch fühlen, aber jeder darf sich wundern. Sogar in extrem angespannten und emotionalen Momenten bewirkt das Werkzeug »Wundern« wahre Wunder, wie das nächste Beispiel verdeutlicht.
Mira und Niklas haben sich schon oft getroffen, verstehen sich gut und wähnen sich kurz davor, ein Paar zu werden. Eines Abends in einem Restaurant erleichtert Niklas sein Herz. Nachdem er drei Gläser Wein getrunken hat, erzählt er von seinem Leben mit Gudrun, seiner Ex, die sich vor sechs Monaten von ihm trennte. Mira hört zu und fühlt sich zunehmend unwohl. Ihr drängt sich das Gefühl auf, Niklas trauere seiner Exfreundin nach und sei womöglich nicht bereit, eine neue Beziehung anzufangen.
Statt ihn zu beschuldigen, bekommt sie die Kurve und wundert sich. Sie sagt: »Du scheinst sie sehr zu vermissen. Möchtest du sie wiederhaben?« Niklas stutzt und denkt nach. »Nein«, sagt er, »es war ziemlich schrecklich mit ihr, das will ich nicht nochmal erleben.« »Warum vermisst du sie dann so?«, wundert sich Mira weiter. Niklas braucht für die Antwort etwas länger, die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Schließlich sagt er: »Ich vermisse nicht sie, ich vermisse die Leichtigkeit, die in den ersten Monaten da war.« Mit dieser Antwort kann Mira umgehen, diese Gefühle kann sie ihm lassen und fühlt sich weiterhin mit ihm verbunden.
Sich zu wundern ist eine offene und effektive Weise, Fragen zu stellen und Irritationen zu klären. Offen zu fragen ist in der Anbahnungsphase gut und nötig, aber den anderen auszufragen oder gar suggestive Fragen zu stellen ist kontraproduktiv. Anstatt etwas Neues zu erfahren, erreicht man damit nur Rechtfertigungen oder Leugnungen. Einfache Formulierungen, mit denen Sie sich effektiv wundern können, lauten:
»Merkwürdig, ich hätte erwartet, dass … statt dessen …«
»Wie kommt es, dass …?«
»Ich wundere mich darüber, dass …«
»Findest du es nicht verwunderlich, dass …?«
»Was bringt dich dazu, … zu sagen/zu tun?«
Staunen Sie weiterhin und bleiben Sie dumm genug!
Manchmal erfährt man in der Anbahnungsphase Dinge, über die man sich nicht wundert, sondern die einen ins Staunen versetzen oder sprachlos machen. Der andere tut etwas, das man nicht nachvollziehen kann, auch beim besten Willen nicht. Manchmal bleibt einem die Spucke weg, wie es der Frau im nächsten Beispiel geht.
Inga und Paul sind sich nahe gekommen, sie fühlen sich fast schon als Paar. In einer Diskussion über das Thema »Nachwuchs« auf einer Geburtstagsfeier sagt ein Freund zu Paul: »Du brauchst dir darüber ja keine Gedanken mehr zu machen«. So erfährt Inga, dass Paul sterilisiert ist. Sie ist geschockt. Einerseits fühlt sie sich stark an Paul gebunden, andererseits stellt die Tatsache, dass mit ihm Kinder nicht mehr möglich sind, eine Distanz zu ihm her. Sie wirft ihm vor, dass sie davon »zu spät« erfahren hat. Zu spät, um ihn einfach nicht wiederzusehen. Sie wirft ihm sogar vor, die Information absichtlich zurückgehalten zu haben. Paul ist gekränkt und reagiert sauer. Er wirft ihr vor, ihn nicht gefragt zu haben, wenn ihr das so wichtig ist. Die Beziehung hängt am seidenen Faden.
An diesem Punkt kommen die beiden in die Beratung. Ich sage ihnen, dass ich die ganze Angelegenheit »ziemlich erstaunlich« finde. Beispielsweise kann man darüber staunen, dass Inga, obwohl ihr offenbar so viel an Kindern liegt, nie nachgefragt hat, ob er welche bekommen möchte und könnte. Oder darüber, dass Paul von ihrem starken Kinderwunsch so überrascht ist. Oder über die Heftigkeit der gegenseitigen Vorwürfe, die ja darauf hinweist, dass sie sich sehr mögen. Man kann auch über Ingas Erwartung staunen, Paul sollte längst darauf hingewiesen haben, und über seine Erwartung, sie sollte ihn vorher befragen. Am meisten kann man aber über die Selbstverständlichkeit dieser Erwartungen staunen, die jeder stillschweigend mit sich trug und die erst anhand dieses Vorfalls vom Partner wahrgenommen wurden.
Jeder tickt anders
Die beiden lassen sich auf das Experiment »Staunen« ein – und dadurch hören die gegenseitigen Vorwürfe auf. Jeder sieht ein, dass seine Erwartungen nur für ihn selbst, nicht aber für den Partner selbstverständlich sind. Der andere tickt tatsächlich anders. Merkwürdig, aber wahr! Der
Weitere Kostenlose Bücher