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Wo die toten Kinder leben (German Edition)

Wo die toten Kinder leben (German Edition)

Titel: Wo die toten Kinder leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roxann Hill
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müssten.“
Ich trank meinen Kaffee in großen Schlucken, unsicher, was ich sagen sollte. „Bitte sei nicht böse, Gerti“, druckste ich schließlich herum, „aber meine Taekwondo-Prüfung….“
Ihr Gesicht wurde weich, als sie mich unterbrach: „Ich weiß, ich weiß, deine Prüfung ist in wenigen Tagen.“
Sie nahm mir die inzwischen fast leere Tasse ab, drückte mir stattdessen ein Croissant in die Hand und gab mir einen kleinen Schubs Richtung Flur. „Jetzt geh schon.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Hastig zog ich meine Sneakers an, griff nach meiner Sporttasche, riss die Eingangstür auf und wollte los. - Ich sah sie immer noch dort stehen, wo ich sie verlassen hatte. Eine große Frau mit weißen Haaren, die sie sich selbst schnitt. Trotz ihres Alters trug sie Jeans und ein Sweatshirt. Sie strahlte viel Energie und Kraft aus, wie ein Fels. Mein Fels.
Sie schaute mich jetzt mit diesem leicht melancholischen Ausdruck an.
„Hab dich lieb, Gerti!“ – rief ich ihr kauend zu.
Sie lächelte zurück. „Weiß ich doch, und jetzt los, mein Findling!“
Mein Findling – sie verriet mir nicht, warum sie mich so nannte. Lediglich der Ansatz eines geheimnisvollen Lächelns huschte stets über ihr Gesicht, wenn ich sie danach fragte. Aber das war mir letztendlich egal, denn ich mochte den Namen. Er gefiel mir, sehr sogar.
Ich schmiss die Tür hinter mir zu, schwang mich auf mein Rennrad und trat kräftig in die Pedale.
Bis zur Innenstadt war es nicht weit. Schnell war ich auf der kleinen Brücke und ließ den Fluss hinter mir, der meinen Vorort vom Zentrum abschnitt. Ich fuhr an schicken Häuserfronten des frühen neunzehnten Jahrhunderts vorbei, mit Jugendstilfassaden, großen langen Sprossenfenstern und kleinen ordentlichen Vorgärten - an Universitätsbauten, vor denen wochentags Trauben von Studenten standen, die irgendwo her kamen und irgendwo hin gingen und bog schließlich zum Sportzentrum ab.
Mindestens zweimal pro Woche kam ich hierher, denn Taekwondo war meine Leidenschaft. Es hatte die körperlichen Auswirkungen meines Unfalls restlos ausradiert.
„Fräulein Stolzen, haben Sie Geduld! Ein dreiwöchiges Koma geht niemals spurlos an einem vorüber…“ - meine Ärzte waren gar nicht müde geworden, mir das gebetsmühlenartig in zahl- und sinnlosen Beratungsgesprächen zu erläutern. Aber eines hatten sie mir nicht gesagt. Vermutlich passte es nicht in ihr wissenschaftlich geprägtes Weltbild. Doch das ändert nichts an der Realität. Denn selten, sehr selten, kommt es vor, dass nach einem Koma ganz besondere Spuren zurückbleiben.
Einige wenige bringen aus der Welt an der Schwelle des Todes etwas anderes mit.
Etwas Jenseitiges.
Zu denen gehörte ich.
Ich sperrte mein Rad ab, nahm meine Tasche vom Gepäckträger und ging zielstrebig auf das Sportzentrum zu. Ich konnte das Training kaum erwarten.
Fast am Eingang angelangt, glaubte ich, ein leichtes Donnergrollen in weiter Ferne zu vernehmen. Alarmiert stoppte ich und hörte genauer hin. Für meine heutige Party wünschte ich mir perfektes Wetter. Regen konnte ich wirklich nicht gebrauchen.
Mit Besorgnis blickte ich zum Himmel empor, doch alles schien in bester Ordnung. Kein Wölkchen, nur das gewohnte Blau, das mir für meine bevorstehende Feier Entwarnung signalisierte. Vögel zwitscherten und ein Rabe flog vorbei, dessen nachtschwarze Flügel die Luft um ihn herum schwingen ließen.
Ich atmete auf, doch das Gefühl der Erleichterung verblasste sehr schnell. Es wurde zu einer undeutlichen Erinnerung, als eine andere, weitaus stärkere Empfindung von mir Besitz ergriff. Ich wusste gar nicht, was in mich gefahren war, doch trotz des warmen Wetters fröstelte ich. Auf meinen Armen bildete sich Gänsehaut.
Das Grollen hatte eine dunkle, undefinierbare Gewissheit in mir geweckt, als wollte mich der Himmel vor einer Gefahr warnen.
Ich verharrte, meine Hand am Griff der Eingangstür. Mit gesenktem Kopf lauschte ich, ob sich der Donner wiederholen würde. Doch es blieb ruhig und mit der Ruhe schwand mein sonderbares Gefühl, in der Falle zu sitzen– ausgeliefert, ohne die geringste Chance zu entrinnen.
     
2
 
Er saß in seinem Wagen. Rastlosigkeit zerrte an seinen Nerven, riss an seiner Geduld. Er musste etwas tun, sich ablenken.
Ziellos kurvte er in der Stadt herum, die ihr Zuhause war und die er aus ihren Träumen kannte. Die Stadt war überschaubar, sie machte es ihm leicht, sich mit ihr vertraut zu machen.
Er kam an einem Sportzentrum vorbei,

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