Wo die verlorenen Seelen wohnen
gut genug gewesen war.
Das Muster, nach dem er jetzt seine Tage verbrachte, war klar und einfach. Nach seinem Besuch in der Bücherei unternahm er täglich einen langen, einsamen Spaziergang rund um Blackrock oder die Booterstown Road entlang bis zu dem überwucherten kleinen Friedhof, der dort hinter einer Esso-Tankstelle versteckt lag. Dort konnte man in aller Ruhe allein sitzen, ohne dass irgendwelche Leute, die vorbeikamen, womöglich dachten, dass er ein totaler Loser war. Manchmal schlenderte er auch die schmale Einbahnstraße entlang, die von der Castledawson Avenue abzweigte, bis er vor den verlassenen Gebäuden der Molkerei von Mrs McCormack stand, wo sich seine Großeltern kennengelernt hatten, als sie ungefähr in seinem Alter waren. Die Haustür sah aus, als wäre sie seit vielen Jahren nicht mehr geöffnet worden, und die zerschlissenen Spitzenvorhänge hinter den verstaubten Fenstern starrten vor Schmutz. Manchmal reizte es ihn, doch endlich einmal die leeren Räume des Hauses zu erkunden, aber eine unbestimmte Furcht hielt ihn zurück, eine grausige Vorahnung, die ihn befiel, sobald er auch nur mit der Hand das verrostete Eisentor berührte.
Er fühlte sich dann so einsam, dass er nach Hause zurückkehrte. Dort aber musste er zu seinem Schrecken feststellen, dass er sich an manchen Tagen in den Räumen wider Erwarten nicht allein fühlte. In einer Neubausiedlung wie Sion Hill konnten noch keine Geister umgehen, trotzdem hatte er manchmal das Gefühl, dass ihm unsichtbare Augen von Zimmer zu Zimmer folgten. An solchen Nachmittagen war es in dem neuen Haus immer deutlich kälter als sonst, und selbst wenn es regnete, setzte er sich dann lieber auf den Balkon, weil er sich dort sicherer fühlte. Er versuchte sich krampfhaft aufsein Buch zu konzentrieren, bis er endlich seine Mutter nach Hause kommen hörte.
Kein Buch konnte ihm jedoch das ersetzen, wonach er sich so sehr sehnte, nämlich einen neuen Freund zu finden. Den Büchern aber hatte er es zu verdanken, dass er Geraldine kennenlernte. In der drückenden Hitze jenes Sommers waren sie oft die Einzigen, die in der Blackrock Library die Regale durchstöberten. Sie war genauso alt wie Shane und total cool, erst recht für ein Mädchen. Sie wirkte fast ein bisschen wie ein Junge und dann auch wieder gar nicht. Bestimmt konnte man sich mit ihr gut unterhalten, das spürte er irgendwie, aber er war viel zu schüchtern, um sie anzusprechen. Geraldine kam und ging immer allein. Was aber nicht daran zu liegen schien, dass sie keine Freunde hatte. Sie mochte es wohl einfach nur, jeden Tag ein paar Stunden selbstvergessen herumzuschmökern.
Geraldine hatte tiefschwarze Haare und immer einen leicht überheblichen, abweisenden Gesichtsausdruck. Sie konnte unermüdlich in den Regalen suchen, bis sie endlich ein Buch gefunden hatte, das ihr gefiel, und dann stand sie auf einmal lächelnd da, ganz versunken in die erste Seite, bis sie das Buch dann zufrieden zuklappte und die Bücherei verließ, ins gleißende Sonnenlicht hinaus. Dass Shane da war und sie in einem fort anstarrte, schien sie nicht zu bemerken. Er fing an, alles auszuleihen, was sie auch ausgeliehen hatte, selbst wenn er die Bücher schon ein Dutzend Mal gelesen hatte. Das war seine Art und Weise, um sie kennenzulernen. Auf diese Weise hatte er, ohne dass sie es ahnte, das Gefühl, einen winzigen Teil ihres Lebens mit ihr zu teilen. Bald begann er, ihr nach Hause zu folgen – unauffällig, in sicherer Entfernung –, weil das für ihn die Zeit verlängerte, in der sie zusammen waren. Außerdem schob er damit die Einsamkeit etwas hinaus, die ihn wieder befallenwürde, sobald er in das leere Haus zurückkehrte; die Einsamkeit und das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden.
Geraldine lebte im letzten Haus einer Reihe von schmalen alten Backsteinhäusern, ganz am Ende der Newtown Avenue. An dem Haus war nichts besonders prächtig oder auffallend, genauso wenig wie an Geraldine. Aber es wirkte einladend, es war ein Haus, wie Shane es sich ausgesucht hätte, wenn er bei ihrem Umzug nach Blackrock irgendetwas mitzureden gehabt hätte. Es hatte auf der Seite einen Garten mit einem schmiedeeisernen Zaun, und einmal, nachdem Geraldine in dem Haus verschwunden war, spähte Shane zwischen den Stäben hindurch und entdeckte eine Hängematte, die zwischen einem Apfelbaum und der Hauswand aufgespannt war.
Am Abend dieses Tages stritten seine Eltern so laut und heftig miteinander, dass er nicht lesen
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