Wo die verlorenen Seelen wohnen
Es war nicht mehr mein Vater, den ich mir als Zuhörer vorstellte, sondern Shane. Mir war, als spürte ich, wie sehr ihm die Musik gefiel und wie sich seine Begeisterung auch auf alle anderen übertrug. Meine Texte handelten von der Verletzlichkeit, davon, was es bedeutet, jung zu sein, davon, wieaufregend es ist, all die neuen Gefühle zu entdecken, die man noch nicht kennt, und wie verängstigt man sich dabei manchmal fühlt.
Das Schweigen, als ich meine Lieder sang, war völlig anders als das schreckliche Schweigen damals während des Talentwettbewerbs. Ich hatte das Gefühl, die Zeit angehalten zu haben. Alle schienen mir gebannt zuzuhören. Meine Stimme gewann an Kraft. Der erste Mal glaubte ich wirklich zu verstehen, was meinen Vater dazu angetrieben hatte, mit seiner Gitarre durch Irland und halb Europa zu ziehen. Was für eine Magie darin liegt, aufzutreten und zu spielen. Normalerweise war ich schüchtern und brachte kaum ein Wort heraus, aber mit meiner Gitarre wurde ich zu einer anderen Person, für die die alten Regeln nicht mehr galten. Als ich das erste Lied beendet hatte, klatschten die anderen und wollten mehr hören. Ich sang noch vier Lieder, dann legte ich meine Gitarre weg, weil mich so viel Beifall und Begeisterung verlegen machte. Shane machte noch einmal eine Handbewegung und ich wusste, dass er das alles getan hatte, weil er mich aus meinem Panzer herauslocken wollte. Ich hatte mich beim Singen sicher gefühlt, weil ich wusste, er würde kein Gejohle zulassen. Schockartig wurde mir klar, dass Shane für mich so etwas wie eine Vaterfigur geworden war.
Danach sangen wir gemeinsam weiter. Die ganze Klasse stimmte mit ein, weil wir Lieder nahmen, die einfach alle kannten. Ich überließ das Feld den anderen beiden Jungs mit ihren Gitarren. Als ich aufstand und zur Tür ging, nickten mir viele zu und reckten anerkennend den Daumen nach oben. Ich hörte hinter mir Schritte und dachte zuerst, Shane würde mir vielleicht nach draußen folgen. Aber dann merkte ich, dass es Geraldine war. Gemeinsam standen wir in der kalten Nachtluft und schauten schweigend in das Tal hinunter. Die Sterneleuchteten hier so klar, ringsum war es so still. Ich spürte sie neben mir, ich spürte ihren Körper; das war immer so, wenn wir nah beieinanderstanden. Sie war das schönste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte, und sie roch auch verdammt gut. Ich wusste nicht, was ich mit ihr reden sollte, aber zum Glück sagte sie dann was.
»Mir haben deine Lieder gut gefallen.«
»Danke.«
»Die Texte sind einfach großartig. Wie kommst du denn auf das alles?«
»Fällt mir einfach so ein, ist mir selber ein Rätsel.«
Sie schien zu frösteln. »Ich mag keine Rätsel und Geheimnisse.«
»Magst du nicht?«
»Nein. Ich mag lieber, wenn was einfach zu verstehen und unkompliziert ist. Und auch solche Menschen, wie dich.«
»Findest du mich beschränkt?«
»Unkompliziert meint doch nicht beschränkt«, sagte Geraldine. »Eine unkomplizierte Person ist jemand, dem du vertrauen kannst. Nicht jemand, von dem du glaubst, du kennst ihn, und von dem sich dann herausstellt, dass er eigentlich ein völlig anderer Mensch ist.«
»Redest du von Shane?«
»Alles, was ich sagen will, ist: Pass auf dich auf. Du bist nämlich besser als Shane.«
Ich zuckte verlegen mit den Schultern. »Warum? Was findest du an mir besonders?«
»Ich sag nicht, dass an dir irgendwas besonders ist.«
»Aber du musst zugeben, dass an Shane irgendwas besonders ist.«
»Besonders? Eher irgendwie seltsam, würd ich sagen.«
»Was meinst du damit?«
»Ich hab ihn damals im Sommer kennengelernt, vor zwei Jahren. Da war er ein bisschen wie du.«
»Wie ich?«
»Na ja.« Sie wurde etwas rot. »Irgendwie süß … eigentlich ganz normal, aber sehr nett.« Sie schaute mich an. »Er benutzt dich.«
»Wie das denn? Bevor Shane zur Tür reingekommen ist, hat keiner in der Klasse auch nur registriert, dass es mich gibt.«
»Mir bist du sofort aufgefallen.«
»Und warum?«
Sie blickte verlegen zur Seite. »Willst du jetzt Komplimente hören oder was?«
»Ich bin es nur nicht gewöhnt, dass Mädchen mich anquatschen.«
»Ich quatsch dich nicht an.« Geraldine klang genervt. »Nur weil du ein paar anständige Lieder gesungen hast, bist du noch lange kein Rockstar. Ich bin noch nie in meinem Leben einem Jungen hinterhergelaufen.«
»So hab ich das nicht gemeint«, sagte ich hastig. »Ich bin nur einfach nicht gut darin, die Dinge auszudrücken, die mir
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