Wo die verlorenen Seelen wohnen
konnte. Da schloss er die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass er selbst friedlich in der Hängematte lag und hin und her wippte.
Das fünfte Mal, als er Geraldine nach Hause folgte, blieb sie vor dem Zaun stehen und blickte plötzlich die Straße entlang. Shane konnte sich gerade noch rechtzeitig hinter ein parkendes Auto ducken. Als er vorsichtig dahinter hervorspähte, stand sie immer noch da und wartete darauf, dass er wieder auftauchte. Beschämt stand er schließlich auf und ging davon, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Egal, wie sehr er sich an diesem Abend auch bemühte, sich auf sein Buch zu konzentrieren, er brachte es nicht fertig, die lauten Stimmen seiner streitenden Eltern auszublenden. Er hatte das Gefühl, die einzige Freundin, den einzigen Freund, den er hatte, verloren zu haben. Auch wenn Geraldine davon nichts wusste, für ihn war sie eine gute Freundin geworden und er träumte jeden Nachmittag davon, neben ihr in der Hängematte zu liegen und zu lesen.
Am nächsten Vormittag drückte er sich verschämt zwischen den Regalen herum, als Geraldine in die Bücherei kam. Er hatte Angst, dass sie auf ihn zugehen und ihn einen widerlichen Kerl nennen würde. Aber sie gab nur ein Buch zurück und ging dann gleich wieder, ohne in seine Richtung zu blicken. Als Shane sich kurz darauf das Buch schnappte, bemerkte er, dass daraus ein Zettel hervorsah. In typischer Mädchenhandschrift war darauf zu lesen:
Wahrscheinlich glaubst du, dass du der schüchternste Mensch auf der ganzen Welt bist, aber da täuschst du dich. Ich bin nämlich noch schüchterner. Schreib mir doch, was du von dem Buch hältst, wenn du es gelesen hast. Ich finde das Ende irre.
Geraldine
Darunter hatte sie einen Smiley gezeichnet und ihre Handynummer geschrieben.
Shane ging gar nicht erst in das leere, neue Haus zurück. Er setzte sich auf eine Bank im Blackrock Park und las das Buch in zwei Stunden durch. Er liebte jedes einzelne Wort davon, zum Teil, weil das Buch wirklich so gut war, zum Teil aber auch, weil er wusste, dass es ihr gefallen hatte. Seine erste SMS war kurz: Wow, gefällt mir.
Es war einfacher zu schreiben, als miteinander zu reden. Bis zum Schlafengehen hatten sie zwei Dutzend Nachrichten ausgetauscht. Seine Eltern hörte er an diesem Abend kaum. Zwar konnte Shane auch diesmal nur schwer einschlafen, aber das lag nicht an seiner Angst vor dem wiederkehrenden Albtraum mit dem Wasser. Geraldine und er wollten sich am nächsten Vormittag vor der Blackrock Library treffen. Vielleicht hatte er endlich jemanden gefunden, der ihn aus seiner Einsamkeit erlöste.
A CHTES K APITEL
J OEY
O KTOBER 2009
S echs Wochen nach Schulbeginn fuhr meine neue Klasse im Stradbrook College für ein Wochenende in ein Schullandheim in Glencree, in den Bergen. Auf dem Weg dorthin legten wir einen Halt bei den verkohlten Ruinen des Hellfire Club ein. Die anderen kreischten alle auf, vor allem die Mädchen, und versuchten sich gegenseitig zu erschrecken, während sie bei ihren Verfolgungsjagden sämtliche Winkel und Räume des verfallenen Gebäudes erkundeten. Nur Shane blieb draußen vor den Überresten des ehemaligen Herrensitzes auf einem Baumstamm sitzen. Als die anderen riefen, er solle doch kommen und mitmachen, grinste er nur und schüttelte den Kopf. Aber in seinen Augen lag etwas anderes, noch nie hatte ich bei ihm diesen Ausdruck bemerkt, den man fast Grauen nennen konnte.
Ich setzte mich neben ihn, zum Teil, um ihm Gesellschaft zu leisten, zum Teil, weil ich merkwürdig angespannt und nervös war. Denn die Straße, auf der wir hergekommen waren und weiterfahren würden, war die Straße, auf der mein Vater ums Leben gekommen war. Nach einer Weile blickte Shane auf.
»Whiskey mit geschmolzener Butter, muss ja widerlich geschmeckt haben«, sagte er. »Das haben sie da drin im Hellfire Club nämlich getrunken, wenn sie total besoffen aus der EagleTavern hierher raufgekommen sind. Sie saßen vor dem lodernden Kaminfeuer und dann haben sie auf den Teufel angestoßen.«
»Ja, und bei uns heißt es gleich, die Jugend von heute besäuft sich, nur wenn wir am Freitagabend im Park mal ein paar Dosen Bier trinken.« Ich versuchte, ihn etwas aus seiner trüben Stimmung herauszureißen.
»Einer aus Blackrock ist hier oben mal ums Leben gekommen«, sagte Shane. »Henry Dawson. Sein Stallbursche behauptete, er habe ihn mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden. Später wurde aus dem Stallburschen ein reicher Mann, dem halb
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