Wo fehlt's Doktor?
steht knapp vor der Promotion...«
Der Dean bekam sanfte Augen, als sein Blick auf das Foto seiner Erstgeborenen fiel, das neben dem Briefblock auf seinem Schreibtisch stand. Seine Tochter Muriel geriet der Mutter nach, aber ihr dunkles Haar war streng nach hinten gekämmt und gab eine Denkerstirn frei; die vollen Lippen, die so einladend sein konnten wie frische Erdbeeren, waren zusammengekniffen, und die träumerischen, sanften Augen studierten anscheinend gerade fasziniert ein Pickel auf der Nase des Fotografen. »Ich glaube, wir sollten dankbar sein, daß sie sich zu einem so ernsten, beherrschten Mädchen gemausert hat und ganz anders ist als diese sexverrückten Flittchen, die man heutzutage unter den Studentinnen findet - wie ich zu meiner Schande gestehen muß, auch unter jenen von St. Swithin. Ich hoffe ehrlich, daß sie die Goldmedaille in Klinischer Medizin nach Hause bringt. Wirklich ein Pech, daß sie gerade dieses Jahr einen so scharfen Konkurrenten hat. Du weißt, den kleinen Sharpewhistle. Der Kerl ist völlig anomal. Ein intellektuelles Monster. Sein Verstand macht mir manchmal im
Krankensaal fast Angst...« Der Dean drückte ein paarmal auf den Auslöser seines Kugelschreibers. »Meine Liebe, du weißt, Sir Lancelot muß fertig sein, bevor ich mich auf den Weg ins Spital mache. Was hast du heute vormittag
vor?«
»Montag ist mein Physiotherapietag.«
»Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Hoffentlich behandelt dich dieses Mädchen im St. Swithin richtig. Ein Glück, daß ich Sir Lancelot stets hindern konnte, sich deinen Rücken anzuschauen. Er hätte ihn bestimmt unversehens aufgeschlitzt. Absolute Sadisten, diese Chirurgen. Was sie wahrscheinlich veranlaßt, einen so abnormalen Beruf zu ergreifen...«
Wieder allein, machte sich der Dean mit Eifer ans Werk. Mit Hilfe von »Who’s Who« und dem »Medizinischen Wegweiser« füllte er rasch vier Seiten, die er dann mit tiefer Selbstbewunderung überflog. Es war wirklich ungemein gut, stellte er fest. Und wer weiß, meinte er nachdenklich, während er das Geschriebene in einen Briefumschlag steckte, vielleicht würde der Redakteur genügend beeindruckt sein, um ihn zu weiteren Artikeln aufzufordern. Über ein weniger spezialisiertes Thema und gegen ein saftiges Honorar, versteht sich. Mit dem Briefumschlag in der Hand stieg er schnell die Treppe hinunter. In der engen Vorhalle griff er nach Hut und Aktentasche. Er rief seiner Frau ein »Auf Wiedersehen!« zu, öffnete die Haustür und trat hinaus in den Morgensonnenschein.
Von der Haustür führten ein paar Stufen direkt auf den Gehsteig. Der Dean wohnte in Lazar Row Nummer 2, im mittleren von drei neuerbauten dreigeschossigen Reihenhäusern, die mit der Mauer des Spitals eine kurze Sackgasse bildeten. Als er das Haus verließ, war die Tür des Hauses zu seiner Linken, Nummer 3, angelehnt. Der Bewohner dieses Hauses stand auf den Stufen, einen Packen Briefe in der Hand, und zog, während er seine Morgenpost einholte, geräuschvoll die Luft ein. Er war fast fertig angekleidet, in einer gestreiften Modehose und einem weißen Hemd mit einer St.-Swithin-Krawatte; nur anstelle eines Jacketts trug er einen scharlachroten Morgenrock, den riesige, furchterregende Drachen zierten.
»Morgen, Lancelot!« rief der Dean fröhlich. »Schöner Tag heute!«
Sir Lancelot Spratt brummte.
»Sehe ich dich heute beim Mittagessen im Spital?«
»Zweifellos.«
Der Dean warf sich in Positur. »Ich muß sagen, ich glaube, daß ich heute schon ein hübsches Pensum geleistet habe. Ein erhebendes Gefühl für den Wochenbeginn, was...?«
»Ich würde mir viel lieber vormittags ein Cricketmatch zu Gemüte führen.«
»Warum tust du’s nicht?« drängte der Dean. »Warum nicht einfach schwänzen? Wir müssen nach unseren Freuden haschen, solange wir können. Wer weiß? Vielleicht wirst du uns noch heute nachmittag entrissen.«
»Diese Möglichkeit habe ich eigentlich nicht unbedingt eingeplant.«
»Nun, ich muß jetzt gehen. Es gibt immer vor meiner Morgenvisite eine Menge Arbeit für den Hörsaal zu erledigen. Angenehm, daß man zu Fuß von zu Hause zur Arbeit gehen kann! Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht mehr, wie ich diesen entsetzlichen West-End-Verkehr ausgehalten habe, als wir noch nahe der Harley Street wohnten. War so ziemlich das Klügste, was ich tun konnte, hier neben dir einzuziehen.« Sir Lancelot starrte ins Leere. Der Dean reckte sein Kinn und holte tief Atem. Der warme Sonnenschein und das Wissen
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