Wo fehlt's Doktor?
blättert.
Muriel sah wieder auf die Uhr: genau zweieinhalb Minuten vor neun. Mit einem Ruck stand sie auf. Die Stunde Null. Wenn sie sich gestern beim Zurücklegen der Strecke im Zeitnehmen nicht geirrt hatte, mußte sie genau im richtigen Moment an ihrem Bestimmungsort eintreffen. Sie klappte den Band »Neueste Erkenntnisse« zu und sah sich vorsichtig um. Ja, sie war allein. Es war, selbst für einen gewissenhaften Studenten, noch zu früh, sich in die Bibliothek zu verirren; doch es war möglich, daß ein Mädchen aus ihrem eigenen Jahrgang hereinplatzte, um ein paar Daten nachzuprüfen, sich dann an ihre Fersen heftete und damit den ganzen wohldurchdachten Plan zu Fall brachte. Muriel nahm die Lesebrille von der Nase und ließ sie, samt ihrem Notizbuch, in eine geräumige braune Handtasche gleiten. Eine Sekunde lang verharrten ihre Fingerspitzen in der Tiefe der Tasche. Ja, natürlich war es noch da, und sie hatte das Gefühl, daß es noch ganz warm war.
Rasch näherte sich Muriel dem Ausgang der Bibliothek. Sie war hochgewachsen wie ihre Mutter, und in den flachen Schuhen wirkten ihre Füße fast zu groß. Ihr einfaches braunes Kleid war neu, aber wie alle ihre Kleider schien es nach der Mode von vorgestern geschnitten. Ihr Haar hatte sie mit Hilfe eines Gummibandes zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war schlank, und wenn sie sich, was in letzter Zeit oft genug vorkam, in ihrem Schlafzimmerspiegel im obersten Stock der väterlichen Wohnung betrachtete, mußte sie zugeben, daß ihre Anatomie, obwohl von jener anderer Mädchen nicht verschieden, doch recht geschmackvoll verteilt war. Eine Erkenntnis, die ihr etwas Angst einflößte. Denn hätte sie versucht, sich nur ein wenig herzurichten, hätte sie genauso attraktiv ausgesehen wie irgendeine von den Hunderten jungen Frauen, die im St. Swithin tätig waren. Sie erklärte jedoch ihrer Mutter, daß sie keine Zeit dazu habe, und ihr Vater hielt Verschönerung überhaupt für etwas völlig Unnötiges, noch dazu, wo die Studenten von St. Swithin so wenig wählerisch wären wie ein Haufen eben aus Broadmoor entsprungener Triebverbrecher.
Muriel trat aus der Bibliothek in den Hof, aber diesmal ließ sie die Treppe zum Haupteingang des Spitals links liegen. St. Swithin war so planlos gewachsen wie ganz London und in den vierhundert Jahren seines Bestehens waren kreuz und quer auf dem gesamten Komplex Gebäude emporgeschossen, die in bizarren Winkeln aufeinanderstießen oder durch enge Durchlässe voneinander getrennt waren. Muriel lief durch eine mit Quadersteinen gepflasterte Passage, die an der im Georgianischen Stil erbauten Gebärklinik vorbeiführte, lief am funkelnagelneuen, aus Stahl und Glas errichteten Chirurgie-Trakt entlang und nahm Kurs auf den aus dem siebzehnten Jahrhundert stammenden zinnenbewehrten roten Ziegelbau, wo die medizinischen Laboratorien untergebracht waren. Am gotischen Eingangstor vorbeilaufend, bog sie um die Ecke und verschwand im Hinterhof. Dort kletterte sie, nach einem weiteren, vorsichtigen Blick über die Schulter, eine schwarze, metallene Feuertreppe hoch. Die Tür zur dritten Etage war leicht angelehnt - Muriels Werk von gestern nachmittag.
Sie sah sich nach beiden Seiten um. Der düstere, grün ausgemalte Gang war menschenleer. Sie ging auf eine Milchglastür am Ende des Ganges zu, auf der in roten Lettern die Aufschrift »Klinische Pathologie« prangte, und klopfte an.
»Herein!«
Sie öffnete die Tür. Mr. Winterflood, die Pfeife zwischen den Zähnen und den Schottenschal um den Hals gewunden, legte gerade seinen rehbraunen Regenmantel ab. Ihr Zeitplan, überlegte Muriel, war wirklich einmalig, war so raffiniert ausgeklügelt wie alles, was sie tat - oder fast alles, schränkte sie den Umständen angemessen ein.
»Das ist ja Miß Lychfield! Wie steht das werte Befinden des Dean?«
»Danke, Mr. Winterflood, ich glaube, recht gut. Entschuldigen Sie, daß ich, kaum daß Sie gekommen sind, hereinplatze...«
»Eine kleine Sekunde nur. Bis ich den weißen Mantel angezogen habe.« Er wickelte sich den Schal vom Hals. »Wissen Sie, ich muß mich gut einpacken. Ein sonniger Morgen kann oft trügerisch sein. Ich meine, wenn man - wie ich -mit allen Leiden gesegnet ist. Ein >wanderndes pathologisches Museum< hat mich der Dean einmal genannt. Offenbar kann er es kaum erwarten, mich hinunter auf den Seziertisch zu bekommen.«
Er lachte kurz auf, dann nahm er ein Zündholz aus seiner dicken khakibraunen
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