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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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seine Sprechweise wirkte er auf mich wie einem alten Istanbul-Foto entstiegen. Er arbeitete als Chauffeur für meinen Vater und wollte nicht aufhören, obwohl er schon über siebzig war, denn nach seiner eigenen Aussage sah er die Arbeit als eine Art Gottesdienst an; meiner Ansicht nach setzte er dieses Leben fort, weil er für sich kein anderes gefunden hatte oder weil er ständig vor etwas floh, das ich nicht verstand und nicht benennen konnte. Jahrelang hatte er für die Ortsgruppe der AP gearbeitet und fühlte sich bemüßigt, bei jeder Gelegenheit zu verkünden, alle Linken seien Vaterlandsverräter, die aus dem ›Ausland‹ mit Geld unterstützt würden. Soviel ich herausbekommen konnte, hatte auch er einst ein Geschäft gehabt, hatte Konkurs gemacht und bei meinem Vater als Fahrer angefangen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wo und wie hatten sie sich kennengelernt? … Auf welche Weise war er in den Laden gekommen? Das ist für mich immer im dunkeln geblieben. Mein Vater zeigte keine Neigung zum Erzählen. Er hatte die besondere Eigenart, Geheimnisse von Menschen, die er wertschätzte, für sich zu behalten … Deswegen stocherte ich in der Angelegenheit nicht weiter herum. Das war nicht nötig. Ich wußte nur, daß ihre Beziehung, ja Freundschaft, weit in die Vergangenheit zurückreichte.
    Ich erinnere mich vage an jene Zeit, in der ich Kind war. Es gab damals noch keinen Laden. Wir hatten nur einen kleinen Raum in einem jener veralteten Geschäftshäuser in Eminönü, der zum Teil als Lager, zum Teil als Verkaufsraum genutzt wurde, und der uns hoffnungsvoll in die Zukunft schauen ließ. Kemalettin Bey trat zufällig zur selben Zeit in unser Leben wie der Kleintransporter, den mein Vater gekauft hatte, um den Apotheken in Anatolien Drogeriewaren zu liefern. Mein Vater sagte, er habe ihn eingestellt, weil er die langen Fahrten nicht alleine machen wollte. Aus irgendeinem Grund habe ich diese Worte, deren Sinn mehrdeutig war, nicht vergessen. Wer weiß, welche Erlebnisse sie auf jenen Straßen geteilt, was sie einander erzählt hatten … Jedesmal, wenn ich mich daran erinnere, wie nahe sie einander standen, denke ich auch, daß sie in jenem Kleintransporter mit der Zeit wie in einem fahrenden Zimmer gelebt haben müssen, das ihre Geheimnisse bewahrte. Dieses Zimmer hatte auch in meinem Leben einen sehr wichtigen Platz. So als ob vieles dort anfing und endete, was mit meiner Beziehung zu meinem Vater zu tun hatte und an das ich mich zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Vorzeichen erinnern wollte. Daß wir uns nicht verstanden, macht mich immer noch traurig.
    Für die beiden jedoch war die Situation anders. Nach all diesen Straßen und Fahrten waren sie an einen Punkt gelangt, wo keine Rede mehr davon sein konnte, daß sich ihre Wege je trennen würden. Letztendlich haben sie sich ja nie getrennt, trotz aller Veränderungen, die sie erlebten. Nach dem Einzug in den Laden in Bahçekapı war das Anatolienkapitel zu Ende. Man brauchte auch den müden Kleintransporter nicht mehr, der Tausende von Kilometern zurückgelegt hatte. Das war die Zeit, als es anfing, uns langsam besser zu gehen. Auf Drängen meiner Mutter kauften wir sogar die Wohnung in Şişli, in der wir zur Miete gewohnt hatten. Wäre es nach meinem Vater gegangen, dann hätte er diese ›ortsfeste Investition‹ nie gemacht. Nach seiner Ansicht mußte Geld immer Bargeld sein, stets ins Geschäft gesteckt werden, oder besser, in einer schnell transportierbaren Form verfügbar sein. Man wußte ja nie, wann der Staat was beschlagnahmen würde. Ich mache ihm keinen Vorwurf wegen dieser Denkweise. Unser ererbtes kollektives Gedächtnis hat diese Sorge als nur allzu berechtigt bestätigt. Abgesehen davon protzte er auch nicht gerne. Vielmehr war er ärgerlich auf alle, die das taten, und er sagte, daß nur Leute sich so benahmen, die mit gewissen persönlichen Problemen nicht zu Rande kamen. Ich vermute, viele Vertreter seiner Generation dachten so, und mit diesen Gefühlen lebten und starben sie. Unwillkürlich hatte die Bedrohung in der Geschichte das Bemühen verstärkt, nicht zu sehr auf sich aufmerksam zu machen. Deswegen mußten wir uns mit einem Peugeot 504 begnügen, der aus einem mir unbekannten Grund der Juden-Mercedes hieß, obwohl wir genügend Geld hatten, um uns eins von den guten Mercedes-Modellen leisten zu können. Durch den Kauf des Wagens war auch das Problem mit Kemalettin Bey gelöst. Mein Vater gab vor, er könne

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