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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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anderen, unerwarteten Fragen und Möglichkeiten führen können. Doch ich konnte sie nicht weiterverfolgen. Dieser Mord reichte mir. Endlich war es mir gelungen, meinen Vater zu töten …
    Am Morgen nach dem Traum erinnerte ich mich nicht nur an bestimmte Momente mit Vater in manchen Szenen in seinem Laden, der für ihn fast so etwas wie ein Tempel gewesen war, sondern auch an seine Worte, die sich im Laufe der Jahre tief in mir eingegraben hatten: »Du wirst mal ein Nichtsnutz werden!« … Wenn ich über die Werte nachdachte, auf die er sein Leben gegründet hatte, sollte es mir eigentlich nicht viel ausmachen, von ihm als Nichtsnutz angesehen zu werden. Vielmehr rechtfertigte es sogar noch meine Protesthaltung, wenigstens in meinen Augen, wenn eine derartige Lebensweise für mich als passend angesehen wurde. Um den Geschmack dieses Protests bis zuletzt auszukosten, brauchte ich neben diesen Worten auch das Gefühl des Abgelehntwerdens, um noch mehr an mich zu glauben … Doch wenn ich die Sache unter einem anderen Aspekt betrachtete, war ich unweigerlich aufs neue konfrontiert mit der Wunde, die mir das Gefühl meiner Bedeutungslosigkeit geschlagen hatte. Das war es, womit ich nicht fertig wurde: für bedeutungslos zu gelten … Wahrscheinlich war es das, was mich lange Zeit am meisten geschmerzt hat. Wer möchte nicht auf irgendeine Weise Gehör finden?
    Ich hatte die Universität gerade abgeschlossen und tat alles in meiner Macht Stehende, das Leben zurückzuweisen, das man mir bieten oder besser gesagt aufzwingen wollte. Nachgeben bedeutete ungefähr soviel wie in den Tod einwilligen. Es bedeutete, besiegt zu werden, klein beizugeben und – am schlimmsten – sich auszusöhnen … Das erlaubten damals weder meine Gefühle noch meine politischen Überzeugungen … Denn unsere Zeit damals bezog ihre Kraft aus dem Geist des Wandels, ja des Umsturzes … So verkaufte ich zum Beispiel als Zeichen des Widerstands die Goldstücke, die ich zu meiner Bar-Mitzwa geschenkt bekommen hatte und die zu Hause in einer Schublade in einem schwarzen Samtbeutel sorgfältig für ›bedeutsame Tage‹ aufbewahrt wurden. Mit diesem Geld in der Tasche ging ich, unter dem Vorwand, mein Studium fortzusetzen, nach London, wo ich mich herumtrieb, wie es mein Vater von mir erwartete, mich mit irgendwelchen Phantasien selbst betrügend. Meine Eltern hatten sich sehr dagegen gewehrt, das Gold zu verkaufen. Doch gerade dieser Widerstand reizte mich. Einerseits wollte ich ihnen weh tun, andererseits das Gefühl erleben, mich ohne die Unterstützung meines Vaters auf und davon zu machen. Und ich wollte ihnen sagen, daß jene Tage für mich ›bedeutsamst‹ waren, mit anderen Worten, daß ich sehr glaubwürdige Motive hatte, an deren Berechtigung ich glaubte. So fanden sie kaum noch Einwände dagegen. Außerdem kam sowieso nicht viel Geld zusammen; nach meinen Berechnungen konnte ich damit in dieser Stadt, wo nicht nur Fakten, sondern auch Illusionen sehr teuer gehandelt wurden, lediglich sechs Monate auskommen. Danach … Von dem, was danach kam, konnte man lediglich träumen und die Erregung genießen, die aus diesem Traum erwuchs. Wenn mein Geld fast verbraucht wäre, würde ich mich einem unbekannten Abenteuer überlassen, und in der Hoffnung, irgendwie durchzukommen, würde ich diverse Jobs annehmen als Kellner, Tellerwäscher, Putzkraft im Hotel oder als Kassierer in Supermärkten, die nachts geöffnet hatten, ohne darauf zu schauen, ob sie in arabischer Hand waren oder nicht. So würde ich mein Auskommen sichern und beweisen, daß ich in der Fremde auf eigenen Füßen stehen konnte, und wenn es soweit war, würde ich zurückkehren mit dem Gefühl des Sieges, das ich so nötig hatte … Wann das soweit sein sollte, wußte ich nicht. Vielleicht würde ich auch gar nicht zurückkehren. Schließlich war ich ja wie viele meiner ›Nächsten‹ von dem brennenden Wunsch beseelt, viele Werte abzulehnen, und ich liebte aus ganzer Seele den Kampf, in den mich dieser Wunsch verstrickte … Doch nach einigen Monaten merkte ich, daß ich eine falsche Entscheidung getroffen hatte. Die Tatsachen waren ziemlich entmutigend. An der London School of Economics, wo ich an einem Zertifizierungskurs teilnahm, gab es so viele Lehrkräfte, die sich selbst und ihre Kenntnisse wichtig nahmen, daß ich unter Druck geriet. Mit dem wenigen Geld, das ich in den von Zyperntürken geführten Restaurants verdienen konnte, würde es mir nicht möglich sein, aus dem

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