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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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aufgrund seiner Nervosität, die durch seinen Diabetes verursacht war, unmöglich Auto fahren, und bat ihn, seinen privaten Fahrer zu machen. Und damit hatte eine neue Epoche ihrer Gemeinschaft begonnen. Mit der Zeit erkannte ich besser, welches Feingefühl darin lag. Dieses Mal stand mir Vater als ein Mann vor Augen, der sich immer zu seinem langjährigen Weggefährten auf den Vordersitz setzte, sich möglichst nie die Tür aufhalten ließ und den Freund nie als Chauffeur behandelte. Als suchte mein Vater in dieser Beziehung einen Bruder, dessen Fehlen er manchmal fühlte. Anders kann ich mir auch nicht erklären, daß er ihn zur Erholung von seinem immer schlimmer werdenden Asthma in einem Sommer für 14 Tage auf den Uludağ bei Bursa schickte und für alle Kosten aufkam. Die Behandlung zeigte allerdings keinerlei Erfolg. Was konnte man denn auch erwarten bei einem Mann, der trotz heftigen Hustens und Atemnot zwei Päckchen Bafra-Zigaretten am Tag rauchte …
    In den Tagen, als ich mit ihm über den Funken sprach, den wir für den großen Aufstand entzünden wollten, und fest davon überzeugt war, daß ich mich um seine ›Bewußtseinsbildung‹ bemühte, hörte ich ihn im Zwischengeschoß des Ladens mit leiser Stimme zu meinem Vater sagen, er solle sich über meinen Zustand keine Sorgen machen, diese Begeisterung rühre aus einer jugendlichen Laune her und würde vorbeigehen. Ich kam gerade die Treppe herunter und blieb stehen. Ich fühlte mich denunziert und verraten. Dabei hatte er mir immer lächelnd zugehört, mit Interesse, ja sogar mit Blicken, die mich glauben ließen, im Recht zu sein. Ich war sehr wütend und verletzt. Einerseits, weil ich derart verraten worden war, andererseits, weil ich sah, daß ich nicht wie erwartet wichtig genommen wurde. Von dem Tag an gab ich meine Bemühungen auf, ihn von einem – wie ich glaubte – für ihn richtigeren Leben zu überzeugen, und behandelte ihn als unwichtig, ja, ich versuchte, ihn gar nicht mehr zu beachten. Wenn wir uns begegneten, begnügte ich mich mit einem Lächeln. Mit einem Lächeln und dem allerbanalsten Gerede, zu dem einen das tägliche Leben zwang. Im Geiste verachtete ich ihn. Und ich wiederholte mir ständig, er habe dem Leben gegenüber irgendwie kein ausreichendes Bewußtsein. Und doch erinnere ich mich, daß ich an dem Tag, an dem er an Prostatakrebs starb, sehr traurig war. Auf dem Weg vom Friedhof nach Hause dachte ich trotz allem: Ach, hätte ich doch eine Gelegenheit gesucht, mit ihm über andere Dinge zu sprechen. Dafür war es aber nun zu spät. So ist das Leben. So schnell verlieren wir manche Menschen.
    Der Tod von Kemalettin Bey hatte auf jeden in unserer kleinen Gemeinschaft eine andere Wirkung, aber zweifellos erschütterte er am meisten meinen Vater. Damals fing ich an, in den Laden zu kommen, um mich davon zu überzeugen, daß es noch ein anderes Leben gab. Wohl oder übel übernahm ich das Chauffieren. Vater setzte sich wieder auf denselben Platz. Lange Zeit blieb er völlig stumm … Er war in ein Loch gefallen. In ein Loch, an das er sich mit der Zeit zu gewöhnen glaubte … Für mich war das egal. Ich fühlte mich von diesem tiefen Schweigen nicht gestört. Hatte ich doch schon vor Jahren aufgehört, über persönliche Dinge mit ihm zu sprechen.
    Auch auf Monsieur Davit, der unsere Buchhaltung machte, war im Grunde keine große Hoffnung zu setzen. Er war ebenfalls ein normaler Jude, der auf seine Weise längst gelernt hatte, sich mit seinem Leben zu bescheiden. Er hatte zwar nie viel Geld verdient, doch er betrachtete Reichtum als das beständigste Symbol eines erfolgreichen Lebens. Das war eine traurige Herausforderung. Als fasziniere ihn sein Leben lang weniger das Geld als solches, vielmehr die Vorstellung von dem Prestige, das Reichtum verleiht. War er aus diesem Grund ebenfalls Anhänger der AP ? Wer weiß … Er hatte ein bißchen Geld gespart, und wenn er im Laden nichts zu tun hatte, verbrachte er die freie Zeit mit Geldverleih gegen Wucherzinsen, natürlich im Rahmen seiner Möglichkeiten. Mein Vater sah diese Tätigkeit stets als eine unheilbringende und verfluchte an, die Menschen ohne geschäftliche Fähigkeiten und Moralbegriffe ausübten, und manchmal äußerte er seinen Unmut. Aber da er ihm nur einen geringen Lohn zahlte, drückte er ein Auge zu, sowohl wenn Davit manche Ausgaben ein bißchen aufblähte und ein Sümmchen in die eigene Tasche steckte als auch wenn er ›sündigte‹. Im Grunde verstanden die

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